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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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einen Sinn gehabt hatte.
    «Wir sind so weit!», rief Leon von der anderen Seite des Grabens. «Dana kommt jetzt rüber.»
    «Gut!» Tia machte sich bereit. «Zähl laut bis drei!»
    Sie streckte die Arme aus und spürte den Luftzug, als das Mädchen auf sie zu schwang. Doch ihre Hände griffen ins Leere. Tia erhielt einen heftigen Stoß auf Magenhöhe, taumelte rückwärts und fiel hin.
    «Hilfe!», schrie Dana, als sie wie an einem Pendel hängend über den Abgrund zurückschwang.
    Stöhnend rappelte Tia sich auf. Offenbar hatte Leon dem Mädchen zu viel Schwung gegeben, und statt sanft in Tias Armen zu landen, hatte sie ihr ungewollt die ausgestreckten Füße in den Bauch gerammt.
    «Was ist los?», rief Leon.
    «Ich hab sie verfehlt! Sie kommt zurück! Fang sie auf!»
    Tia hörte Leons tappende Schritte, ein Keuchen, dann einen weiteren Aufschrei Danas. Es folgte ein schleifendes Geräusch, als glitte etwas Schweres über den Boden – und dann schrien beide. Der Klemmkeil in der Decke ächzte vernehmlich, und das Seil knarrte wie unter einer plötzlich vergrößerten Last.
    «Leon! Was ist passiert?»
    Tias Herz klopfte heftig, während sie sich zum Rand des Abgrunds vortastete.
    «Scheiße», stieß Leon gepresst hervor. Seine Stimme klang viel näher, als sie hätte klingen dürfen. Tia begriff, was geschehen sein musste: Er hatte versucht, Dana aufzufangen, siejedoch erst erwischt, als sie bereits wieder in die Gegenrichtung zurückschwang. Dabei war er mitgeschleift worden, hatte den Halt verloren und war über die Abbruchkante geglitten. Nun hing er hilflos über dem Abgrund, gemeinsam mit Dana. Das Seil schwang noch immer hin und her, aber erheblich schwächer als zuvor – wenn es sich über der Mitte einpendelte, würden die beiden unerreichbar sein.
    «Oh mein Gott», wimmerte Dana.
    Tia ahnte, wie das Mädchen sich fühlte: In vollkommener Leere an einem unsichtbaren Seil über einem unsichtbaren Abgrund zu hängen, musste der Gipfel des Grauens sein – besonders für einen Menschen, der sich vor der Dunkelheit fürchtete.
    «Leon! Halt dich fest!», schrie Tia und streckte die Arme aus.
    «Mir bleibt wohl nichts anderes übrig», keuchte Leon.
    «Woran hängst du?»
    «An ihrem Hüftgurt.»
    «Ich kann euch nicht erreichen! Kannst du die Bewegung des Seils irgendwie verstärken? Versuch die Beine zu schwingen!»
    Leon wand sich angestrengt. Wieder knarrte das Seil, und auch der Klemmkeil in der Decke knirschte bedenklich.
    Bitte, bitte, lass ihn halten, flehte Tia innerlich. Immerhin war sie so umsichtig gewesen, das Ende des Seils an einem Felssockel auf ihrer Seite des Abgrunds festzubinden. Dennoch bestand erhebliche Gefahr, wenn der Keil versagte und aus der Verankerung brach: Die beiden würden abstürzen und erst drei bis vier Meter tiefer aufgefangen werden, wobei sie seitlich gegen die Felswand schlagen würden. Dana hing sicher in ihrem Gurt, doch sie konnte sich beim Aufprall verletzen. Außerdem konnte der Ruck dazu führen, dass Leon den Halt verlor.
    «Ich schaffe es nicht», rief Leon. «Ich kriege nicht genug Schwung!»
    «Versuch es weiter!», antwortete Tia, wobei sie hörte, dass Justin sich hinter ihr mühsam aufrichtete. Offenbar hatte die drohende Gefahr ihn aus seinem Dämmerzustand gerissen.
    Wieder knirschte der Keil in der Decke, und plötzlich rieselte eine Handvoll kleiner Steine herab, während ein Ruck das straff gespannte Seil erschütterte.
    «Festhalten!», schrie Tia, sprang zur Seite und zog Justin mit sich. Im nächsten Augenblick brach der Klemmkeil aus seiner Verankerung, und das Seil schnappte knapp neben ihr auf den Boden. Zwei Schreie mischten sich zu einem und erfüllten die bodenlose Kluft mit hallendem Echo. Ein dumpfer Aufprall folgte.
    «Leon!»
    Tias Stimme überschlug sich vor Angst. Sie packte das Seil und zog sich zur Abbruchkante.
    «Dana! Seid ihr noch da?»
    Einen schrecklichen Moment lang lauschte sie vergeblich, dann aber hörte sie ein Schluchzen, das eindeutig von Dana stammte.
    «Wir sind hier!», rief Leon.
    «Seid ihr verletzt?»
    «Schulter geprellt   … Nichts von Bedeutung.»
    «Dana, wie geht es Ihnen?»
    «Ich bin okay», kam die zittrige, doch mühsam beherrschte Antwort. Tia hörte, wie Justin neben ihr erleichtert aufstöhnte.
    «Ich glaube, ich schaffe es, am Seil hochzuklettern!», rief Leon.
    «Ich aber nicht!», klagte Dana.
    «Keine Sorge!», rief Tia zu ihr hinab. «Sobald Leon oben ist, ziehen wir Sie mit vereinten Kräften

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