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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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nehmen.
    Doch Leon wagte es nicht, ihr so nahe zu kommen. Aus reiner Vernunft hatte er sich strenge Grenzen gesetzt. Dass sie auf der Straße an seinem Arm ging, war bereits das Äußerste, was er ertragen konnte. Ansonsten vermied er es, sie zu berühren. Selbst jetzt, da sie neben ihm im Wagen saß, spürte er ihre Nähe wie ein prickelndes elektrisches Feld, das ihn verwirrte und ablenkte. Tia trug ihren Cave-Suit, dazu ihre Lieblingsstiefel mit den hohen Profilsohlen. Darüber hatte sie einen weiten Fleecemantel gezogen – weniger der Wärme wegen, wie Leon wusste, sondern um sich in der Öffentlichkeit bedeckt zu halten.
    Er seufzte heimlich. Ihm gegenüber zeigte sie nicht das geringste Schamgefühl: Vorhin zum Beispiel, im Hotelzimmer, hatte sie sich wie üblich vor seinen Augen umgezogen und ihn sogar gebeten, ihr mit dem Reißverschluss zu helfen. Dass Leon Qualen ausstand, wenn sie beim Duschen die Badezimmertür offenließ oder im knappen Achselhemdchen durch die gemeinsame Wohnung huschte, schien sie nicht im mindestenzu ahnen. Eigentlich, sagte er sich, konnte er froh sein, dass sie den Abend nicht im Hotel verbrachten, denn sie hatten wie üblich – aus Kostengründen – ein Doppelzimmer gebucht. Vermutlich hätten sie nebeneinander auf dem Bett gelegen und den Fernseher laufen lassen, obwohl keiner von beiden hinsah: Tia nicht, weil sie nur den Ton hörte, und Leon nicht, weil sein Blick an ihr statt am Bildschirm klebte. Wie üblich hätte sie still dagelegen, nur mit einem hüftlangen Nachthemd bekleidet, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die herrlichen Beine lang ausgestreckt. Leon hätte eine Handbreit Abstand gehalten, aber dennoch ihre Wärme gespürt – Tias Körpertemperatur schien stets ein paar Zehntelgrade über der anderer Menschen zu liegen und umgab sie wie mit einer energetischen Aura.
    Finde dich endlich damit ab, sagte er sich seufzend. Für sie bist du nur ein guter Freund und wirst niemals etwas anderes sein.
     
    Leon schreckte auf, als das Handy klingelte, während er gerade einen Lastwagen überholte. Tia griff ins Handschuhfach und holte das Telefon hervor.
    «Ja?   … Ach, Papa, du bist es   … Nein, wir sind gerade unterwegs   … nichts Besonderes, nur eine kleine Spritztour in die Umgebung. Mach dir keine Sorgen. Ich ruf dich morgen wieder an.»
    Leon wunderte sich nicht im Geringsten. Wie üblich schonte Tia ihren Vater, der nicht bei bester Gesundheit war, und verlor kein Wort über den wahren Zweck ihres abendlichen Ausflugs.
    «Warum machst du das eigentlich?», fragte er, nachdem sie das Handy wieder verstaut hatte.
    Tia wandte sich ihm erstaunt zu. «Was meinst du?»
    «Du bist Wissenschaftlerin. Warum hilfst du bei Rettungseinsätzen?»
    «Findest du das nicht richtig?»
    «Doch, doch», beeilte Leon sich zu versichern. «Ich frage mich nur, warum du dich   … gewissermaßen dafür zuständig fühlst. Ich meine: Da geraten wildfremde Menschen in Not, und nur weil du zufällig in der Nachbarstadt einen Vortrag hältst   …»
    Tia zuckte die Achseln. «Es ist mir einfach ein Bedürfnis. Stell dir vor,
du
würdest in einem Bergwerk oder in einer Höhle verschüttet. Die meisten Menschen sind im Dunkeln völlig hilflos und haben panische Angst. Ich kann mir das gut vorstellen, schließlich war ich nicht immer blind. Oder willst du sagen, dass ich unter einem Helfersyndrom leide?»
    «Nein, das glaube ich nicht», sagte Leon. «Ich glaube nur, dass du sehr oft an ein gewisses zwölfjähriges Mädchen denkst, das in einem verunglückten Wagen eingeklemmt war und vielleicht ihr Augenlicht behalten hätte, wenn sie rechtzeitig befreit worden wäre. Habe ich recht?»
    Tia schmunzelte. «Du hörst dich an wie Dr.   Täubner.»
    «Wie
wer?
»
    «Mein Hausarzt. Der hat mich auch einmal in so ein Gespräch verwickelt   … Glaubte wohl, er müsste den Psychologen herauskehren.»
    «Und? Was hat er gesagt?»
    «Ach, vergiss es.» Tia winkte ab. «Ehrlich, Leon – ich weiß, dass du nicht so scharf auf Rettungseinsätze bist. Und ich weiß, dass ich ungefragt über deine Zeit verfüge und nicht einmal ausschließen kann, dass die Aktion Gefahren mit sich bringt. Ich kann dich nur bitten, mich zu verstehen. Es geht um zwei Jugendliche, einen Jungen und ein Mädchen. Sie sind in eine Höhle gestürzt, wahrscheinlich verletzt, desorientiert und halb wahnsinnig vor Angst. Es wäre mir unerträglich, jetzt im Hotel vor dem Fernseher zu sitzen und zu wissen, dass ich

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