Das Geflecht
ihnen vielleicht helfen könnte.»
«Menschenleben bedeuten dir viel, nicht wahr?» Leon, der Tias Philosophie kannte, nickte respektvoll. Er bewunderte ihre Einstellung aufrichtig, dennoch konnte er sich seine nächste Bemerkung nicht verkneifen. «Gibt es eigentlich niemanden, der dir vielleicht ein wenig mehr bedeutet als die anderen?»
«Wie meinst du das?»
«Ich meine: Jemanden, um den du dich kümmern würdest, auch wenn er nicht gerade in Lebensgefahr wäre.»
Tia lachte. «Natürlich.»
«Sag bloß! Und wer ist der Glückliche?»
«Mein Vater.»
«Sonst niemand?»
«Worauf willst du hinaus?»
«Wie wär’s zum Beispiel mit einem Mann? Seit ich dich kenne, bist du Single.»
«Ach, Leon …» Tia seufzte. «Das ist nun wirklich nicht der richtige Zeitpunkt, um über mein Liebesleben zu sprechen. Wir sind auf dem Weg zu einem Rettungseinsatz, falls du es vergessen hast.»
Leon schwieg gekränkt. Tia schien es zu bemerken, jedoch wie üblich misszudeuten, denn sie strich versöhnlich über seine Hand, die auf dem Schalthebel ruhte.
«Aber es ist süß, dass du dir darüber Gedanken machst.»
Das Wort «süß», ebenso wie die flüchtige Berührung, trieb Leon einen Schauder über den Rücken. Nicht der richtige Zeitpunkt also, dachte er. Irgendwie ist
nie
der richtige Zeitpunkt.
«Im Übrigen bist du doch selbst seit langem Single», neckte ihn Tia im Plauderton. «Das finde ich schon erstaunlich. Zwar habe ich dich nie gesehen, aber ich weiß, dass du gut aussiehst – das sagen jedenfalls die Studentinnen an der Uni.»
«Ich bin erst Single, seit ich mit dir zusammenlebe», stellte Leon in einem Anflug von Kühnheit richtig.
(Na? Muss ich noch deutlicher werden?)
«Tut mir leid», sagte Tia ernst. «Ich hatte schon immer den Verdacht, dass unsere Wohngemeinschaft dich daran hindert, Frauen kennenzulernen. Ich beanspruche dich ja auch viel mehr als ein gewöhnlicher Mitbewohner. Vielleicht sollte ich einmal allein auf Reisen gehen, damit du mehr Zeit für dich hast.»
Okay, ich geb’s auf, dachte Leon resigniert. Allein auf Reisen gehen … Das hätte sie vermutlich sogar fertiggebracht. Sie brauchte ihn ja kaum, allenfalls als Chauffeur. Nicht dass es ihm etwas ausgemacht hätte, Tia zu chauffieren. Er hätte noch ganz andere Dinge getan, wenn sie es ihm gestattet hätte – tatsächlich gab es kaum etwas, das er
nicht
für sie zu tun bereit war.
Leon war achtundzwanzig, hatte seit kurzem sein Diplom in der Tasche und war als Geophysiker bei einem Berliner Ingenieurbüro angestellt. Tia hatte er an der Universität kennengelernt, wo sie in einem Hauptseminar sehr eloquent über Karstquellen im Alpenvorland referiert hatte. Näher gekommen waren sie sich bei der anschließenden Diskussion, die nach Ende des Seminars in einer Kneipe fortgesetzt worden war. Leon hatte es kaum erwarten können, dass die anderen Teilnehmer nach Hause gingen, und bis ein Uhr morgens ausgeharrt, um endlich mit ihr allein zu sein. Fast wäre er so weit gewesen, schon bei diesem ersten Treffen seine Absichten preiszugeben, doch es war ihm nicht gelungen, sich zwischen der Frage «Wie können so schöne Augen blind sein?» und der konkurrierenden Version «Wie können blinde Augen so schön sein?» zu entscheiden. Letztlich hatte er den Mund gehalten und sich in der Betrachtung ihres Gesichts verloren, ungeniert in dem Wissen, dass sie es nicht bemerken konnte.
Anschließend hatten sie sich öfter getroffen, manchmal mit Freunden, manchmal zu zweit, und als Tia schließlich beiläufig erwähnt hatte, dass ihre Mitbewohnerin ausziehen wollte,hatte Leon zugeschlagen und behauptet, er suche schon seit langem eine neue Wohnung. Tia, ehrlich erfreut und völlig arglos, hatte ihm zu verstehen gegeben, dass er jederzeit einziehen könne. Allerdings müsse er damit rechnen, dass sie aufgrund ihrer Behinderung gelegentlich Hilfe brauchen würde. Falls dies eine Warnung sein sollte, verfehlte sie ihre Wirkung gründlich – selbstverständlich hatte Leon ihr Angebot angenommen und nur mit Mühe verbergen können, wie glücklich er darüber war.
Inzwischen lebten sie seit zwei Jahren zusammen. Sie teilten Küche und Bad, kauften gemeinsam ein, verbrachten einen Großteil ihrer Freizeit miteinander und gingen zusammen auf Reisen. Sowohl in Leons Betrieb als auch in der Universität wurde allgemein angenommen, sie seien ein Paar – und Leon tat sich schwer, mit der Wahrheit herauszurücken, wenn Freunde ihn danach
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