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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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dem ausrangierten Kleiderschrank zu tasten, der neben dem Durchgang zur Vorratskammer stand. Dabei lief ihr eine Gänsehaut nach der anderen über den Rücken, denn sie konnte die Vorstellung nicht abschütteln, dass ihre Finger jeden Moment auf etwas Fremdes, Lebendiges, zottig Behaartes stoßen würden.
    Eine Tür des Kleiderschranks war seit langem herausgebrochen.Es gelang Dana, die Öffnung zu ertasten, sich zentimeterweise darauf zuzuschieben und schließlich hineinzuzwängen, schaudernd beim leisen Knarren des alten Holzes. Sie verkroch sich im hintersten Winkel des Schranks, glitt langsam an der Rückwand zu Boden und schlang die Arme um die Knie. In diesem Moment krabbelte eine aufgescheuchte Spinne über ihre nackten Füße. Unter gewöhnlichen Umständen hätte sie vor Schreck und Ekel aufgeschrien, doch die Zunge klebte ihr am Gaumen, und lediglich ihr Herz machte einen schmerzhaften Satz, während sie undeutlich fühlte, wie ihre Blase sich entleerte.
    Eine scheinbare Ewigkeit saß sie da, ohne einen Finger zu rühren, verkrampft und erstarrt. Selbst eine halbe Stunde später, als endlich der Schlüssel an der Wohnungstür rasselte, konnte sie keinen Laut von sich geben, nicht einmal auf die besorgten Rufe ihrer Mutter antworten. Erst als die Sicherung wieder eingesetzt war und das Licht am oberen Treppenabsatz neben der Kellertür aufflammte, begann sie verzweifelt zu schreien – und konnte nicht mehr aufhören, bis ihre Mutter sie endlich entdeckt und aus ihrem Gefängnis befreit hatte.
     
    Seit jenem Tag hatte Dana panische Angst vor der Dunkelheit gehabt. Und so wie damals war es auch heute gewesen, als sie in den Schacht gestürzt war. Nur vage erinnerte sie sich an den Aufschlag am Boden und einen übermächtigen Ruck, der all ihre Glieder durchzittert hatte. Sekundenlang war sie überzeugt gewesen, gestorben zu sein, denn ihre Augen hatten nichts als tiefe Finsternis wahrgenommen. Erst als Finn sich unter ihr geregt und vor Schmerzen gestöhnt hatte, war ihr allmählich klar geworden, dass sie lebte.
    Fahrig hatte sie sich aufzurichten versucht, war jedoch ausgeglitten, seitlich weggerutscht und über eine feuchte Oberfläche, die sich wie nasses Gras anfühlte, an der abschüssigenFlanke eines Hügels in die Tiefe gerutscht. Eisiges Wasser hatte ihre Kleidung durchnässt, während Dunkelheit und ein erstickender Fäulnisgeruch sie umfingen. Sie hatte geschrien vor Grauen und Verzweiflung, außerstande, auch nur für eine Sekunde damit aufzuhören, um auf eine Antwort zu lauschen. Echos hatten ihre Schreie vervielfältigt, und sie hätte nicht zu sagen gewusst, ob noch andere Stimmen in der Luft waren: Vielleicht war es Finn gewesen, vielleicht auch Justin, dessen Stimme fern und unwirklich klang – doch es hatte keine Rolle gespielt, denn Dana war so hilflos und verlassen, dass sie nicht an die Nähe irgendeines menschlichen Wesens zu glauben vermochte. Am Ende waren ihre Schreie verstummt, und ihr Geist hatte sich von der Außenwelt zurückgezogen, zu einer kleinen, harten Kugel im Innern ihres Kopfes zusammengeballt und die Verbindung zum Rest ihres Körpers abgebrochen. Sie vergaß Finn, vergaß, wo sie sich befand, vergaß sogar sich selbst.
    Wie sie zu der Wandnische gelangt war, wusste Dana nicht. Ihr Körper war über den nassen Boden gekrochen und hatte ein Versteck gesucht – so wie damals, als sie sich in dem alten Schrank verkrochen hatte   –, doch seine Regungen erreichten ihr Bewusstsein nicht mehr. Sie hatte sich in einen Felsspalt gezwängt, so tief es eben ging, ohne Rücksicht auf ihre schmerzhaft verdrehten Gliedmaßen. Dann war nicht nur ihr Körper erstarrt, sondern auch die Zeit   – Stunden mochten vergangen sein, vielleicht sogar Tage. Nur gedämpft und wie aus großer Ferne nahm sie das dumpfe Pochen eines Herzens wahr und einen flachen Atem, bei dem es sich möglicherweise um ihren eigenen handelte.
    Auch die Spinne war gekommen, so wie damals im Schrank: Diesmal waren Danas Füße nicht nackt, doch eines ihrer Hosenbeine war hochgerutscht, und über dem Saum der Socke lag ein Stück Schienbein frei. Die Spinne hatte dieses Stück nackterHaut entdeckt und war hinaufgekrabbelt, um es in Besitz zu nehmen. Danas Körper spürte die feinen Berührungen der vielgliedrigen Beine, meldete Schmerz, als Klauen in ihre Haut eindrangen – doch ihr Geist wehrte diese Informationen ab, um vor Angst und Abscheu nicht vollends zu kollabieren. Inzwischen lief nur noch

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