Das Geflecht
Jörn Bringshaus an die Wand zurückgewichen, unfähig, irgendetwas zu tun. Der Anblick Justins, der wie aus dem Nichts aufgetaucht und in den Schacht gesprungen war, hatte jeden Rest taktischen Denkens in ihm ausgelöscht.
Bitte, Gott, nein!, flehte er stumm. Nicht auch noch mein Sohn!
Es war an der Zeit, dass er sich seiner Verantwortung stellte und die Folgen in Kauf nahm. Er öffnete bereits den Mund, doch Böttcher, der eine Hand auf seinen Arm gelegt hatte, brachte ihn mit einem warnenden Zischen zur Besinnung.
«Was ist da oben los?», drang Tias Stimme aus der Tiefe. «Leon, melde dich!»
Da Bringshaus zu keiner Reaktion fähig war, ergriff Böttcher das Funkgerät. «Hören Sie? Danas Freund Justin hat sich in den Schacht gestürzt und ist auf halber Höhe hängengeblieben. Ihr Partner ist auf dem Weg nach unten, um ihn zu holen.»
«Auch das noch! Vielleicht kann ich hinaufklettern und ihm helfen.»
«Nein, bleiben Sie bloß vom Schacht weg!», riet Böttcher energisch. «Das Gestein ist instabil geworden. Hier oben fallen schon Bruchstücke von der Decke!»
«Sehen Sie doch!», rief plötzlich der Notarzt und deutete auf die Vorrichtung, an der das Kletterseil hing. Unter der doppelten Last hatte der Haken sich in Bewegung gesetzt und rutschte knirschend ein Stück aus seinem Bohrloch, während ringsherum kleine Steine herabregneten. «Er bricht heraus! Wir müssen das Seil festhalten, sonst stürzen sie beide ab!»
Er sprang vor – doch im selben Augenblick gab die Wand hinter der Schachtöffnung nach. Ein Felskoloss von zwei Meter Größe brach heraus, neigte sich erstaunlich langsam zur Seite und krachte zu Boden. Der Haken mit dem Kletterseil schoss wie ein Sektkorken aus seiner Verankerung und verschwand in der Schachtöffnung.
«In Deckung!», brüllte Havermann und zog den Notarzt am Kragen fort.
Alle hasteten aus dem engen Gang in die angrenzende Kammer, stolpernd und fluchend. Die Warnung war keine Sekunde zu früh gekommen: Im nächsten Moment brach die Deckeein und verschüttete den Gang mit tonnenschweren Gesteinsbrocken, die beim Aufprall schollenförmig zerbarsten und sich übereinanderstapelten. Ein Hagelschauer kleinerer Steine folgte, und die gesamte hintere Seite der Abbaukammer verschwand unter einer Lawine aus Geröll.
Bringshaus hatte die Rückwand der Kammer als Erster erreicht und duckte sich unter einen Felsvorsprung. Als eine Staubwolke auf ihn zuschoss, riss er instinktiv die Arme vors Gesicht. Das Bersten und Krachen, das die Kammer erschüttert hatte, verklang. Stattdessen erfüllten Schreie und hastende Schritte die Luft. Er begriff, dass er unverletzt war, hustete und blinzelte sich die Augen frei.
Etwa ein Drittel der glockenförmigen Kammer hatte sich in seine Bestandteile aufgelöst und einen Wall aus Bruchsteinen gebildet. Versprengter Schutt bedeckte den Boden. Ein Mann lag stöhnend im Staub und stützte sich auf den Ellbogen hoch, während aus einer Platzwunde an seiner Stirn Blut hervorquoll. Bringshaus erkannte den Notarzt. Havermann, der Rettungsleiter – seinerseits unverletzt – versuchte ihm aufzuhelfen. Die beiden jungen Männer in seiner Begleitung hatten sich zum Ausgang geflüchtet. Einer hielt sich mit schmerzverzerrtem Gesicht das Bein.
«Jörn?» Das staubbedeckte Gesicht Böttchers tauchte vor Bringshaus’ Augen auf. «Alles in Ordnung?»
Bringshaus nickte zittrig.
«Mein Sohn», stammelte er. «Was ist mit meinem Sohn?»
Böttcher presste das Funkgerät ans Ohr. «Frau Traveen! Können Sie mich hören?»
Es dauerte einen Moment, bis Tia antwortete.
«Ich bin hier.»
«Sind Sie verletzt? Die Decke über der Schachtöffnung ist eingestürzt …»
«Das war ja nicht zu überhören», sagte Tia grimmig. «Warten Sie, ich bin auf der Suche nach meinem Partner. – Leon?» Jetzt schrie sie. «Leon! – Justin!»
Bringshaus, an Böttchers Seite stehend, wartete mit klopfendem Herzen. Undeutliche Geräusche drangen aus dem Funkgerät, rasche Schritte, ein Scharren, schließlich ein Stöhnen, gefolgt von einem Stoßseufzer.
«Dem Himmel sei Dank … Justin, sind Sie das?»
Unbeherrscht riss Bringshaus, der die Spannung nicht mehr ertragen konnte, das Funkgerät an sich. «Hier ist Bringshaus! Um Gottes willen, was …?»
«Entwarnung!», meldete Tia. «Ihr Sohn scheint mehr als einen Schutzengel zu haben. Er hat sich die Schulter angeschlagen, aber ansonsten ist er okay.»
Bringshaus fühlte, wie seine Knie weich wurden, und
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