Das Geflecht
sonst muss ich andere Saiten aufziehen!»
Bringshaus war gegen die Wand geprallt und starrte seinen alten Schulfreund schweratmend an.
Es ist alles meine Schuld, dachte er. Warum nur habe ich mich jemals mit ihm eingelassen?
Am liebsten wäre er auf Böttcher losgegangen, war sich jedoch bewusst, dass er ihm körperlich unterlegen war. Böttcher mochte einen halben Kopf kleiner sein, doch er war kompakt gebaut und hatte ein Kreuz wie ein Ringer. Mehr noch als seine Kraft jedoch war es sein Gesicht, das Bringshaus einschüchterte: Die Maske des mittelständischen Unternehmers war abgefallen, und zum Vorschein kam die Fratze eines Raubtiers, das drohend die Zähne bleckte.
«Ich sage es dir noch einmal», wiederholte Böttcher, «reiß dich zusammen, Jörn! Du spielst nicht nur mit deiner Existenz, sondern auch mit meiner, und ich werde nicht zulassen, dass du eine Dummheit begehst. Ist das klar?»
Bringshaus, der seinem Blick nicht standhalten konnte, schlug die Augen nieder.
In seinem Innern jedoch kochte er vor Zorn. War es nicht immer so gewesen zwischen ihnen, schon in der Schule? War es nicht Böttcher gewesen, der jene Clique pubertierender Jungen angeführt hatte, unter denen Jörn Bringshaus nur ein Mitläufer gewesen war? Hatte er nicht alles getan, was Böttcher von ihm verlangte, aus dem aberwitzigen Bedürfnis heraus, sich dem älteren, allgemein bewunderten Jungen zu beweisen?
Nach der Schule hatten sich ihre Wege zunächst getrennt: Böttcher hatte eine Firma gegründet, Bringshaus das Abitur nachgemacht. Am Ende aber war Bringshaus wieder in seinerHeimatstadt gelandet, und eines Tages war Böttcher zu ihm gekommen, um ihn zur Eröffnung seines Ingenieurbüros zu beglückwünschen und auf alte Zeiten anzustoßen. Die erneuerte Freundschaft hatte einen sehr hilfreichen Nebenaspekt gehabt, denn Böttcher kannte einen Beamten bei der Stadtverwaltung, der bereit war, ihnen beiden öffentliche Aufträge zuzuschanzen.
Es war ein Fehler, dachte Bringshaus, die größte Dummheit meines Lebens. Ich werde dem ein Ende machen, ob es ihm nun passt oder nicht. Er sagt, ich spiele mit seiner Existenz. Na schön. Aber er spielt mit dem Leben meines Sohnes!
Bringshaus blickte auf. Böttcher, offenbar von der Fügsamkeit seines Freundes überzeugt, hatte sich abgewandt und erneut das Funkgerät zur Hand genommen. Als er es einschaltete, ergriff Bringshaus überraschend seine Chance, stieß sich von der Wand ab und schnellte vorwärts. Doch er hatte nicht mit Böttchers Wachsamkeit gerechnet. Dieser nämlich sah ihn kommen, fuhr im letzten Moment herum und riss den Ellbogen hoch. Bringshaus spürte einen heftigen Schlag, wurde zur Seite geschleudert, taumelte – und als er sich wieder aufrichtete, sah er nur noch eine geballte Faust, die geradewegs auf sein Gesicht zukam.
Dann wurde alles schwarz.
••• 22 : 30 ••• CAROLIN •••
Carolin Frey sah auf die Uhr. Mittlerweile hielt sie sich seit mehr als zwei Stunden auf dem Vorplatz des Bergwerks auf, doch ans Nachhausefahren dachte sie nicht mehr. Der Freitagabendwar ohnehin gelaufen, und in ihrer Dreizimmerwohnung erwartete sie niemand, abgesehen von einem vermutlich leeren Anrufbeantworter und dem garantiert leeren Bett. Ursprünglich hatte sie nur die Bitte ihres Chefredakteurs erfüllen, einige Fotos schießen und ein paar Zeilen für die Samstagsausgabe formulieren wollen. Als ihr jedoch klar geworden war, dass es sich um einen der spektakulärsten Rettungseinsätze seit Jahren handelte, war sie geblieben und hatte die Zeit vergessen.
Der journalistische Instinkt allerdings war ihr in den vergangenen Stunden ein wenig abhandengekommen. Nachdem sie sich über die Sachlage informiert und die Rettungskräfte interviewt hatte, war sie bis zu Danas Mutter vorgedrungen – und deren desolate Verfassung hatte es ihr unmöglich gemacht, das übliche Bild der «betroffenen Angehörigen» mit professioneller Distanz zu zeichnen. Die arme Frau Novak war einem Nervenzusammenbruch nahe, und Carolin brachte es nicht übers Herz, ihr taktlose Fragen zu stellen. Stattdessen war sie schon nach kurzer Zeit so weit gewesen, der Frau Mut zuzusprechen, sie mit Taschentüchern zu versorgen und am Ende gar ihre Hand zu halten.
Bittrich hätte mir einiges zu sagen, dachte sie seufzend. Ihr Chefredakteur krittelte stets, Carolin habe ein allzu weiches Herz und gehe nicht forsch genug auf mögliche Informanten zu. «Schonen Sie niemanden, das müssen Sie noch
Weitere Kostenlose Bücher