Das Geflecht
Decke, breitete die Arme aus und konzentrierte alle Sinne. Dabei benetzten einige dünne Wasserfäden ihre Haut, die aus der Schachtöffnung wie aus einem undichten Duschkopf herabtropften.
Es sickert also immer noch Wasser durch, dachte sie unbehaglich. Das bedeutet, dass der Wasserspiegel weiter steigen wird – als ob es hier unten nicht schon ungemütlich genug wäre. Bis das Bergungsteam zu uns durchgedrungen ist, sind wir entweder ertrunken oder erfroren.
Ein ungebetenes Bild erstand vor ihrem inneren Auge: vier Menschen, eng zusammengedrängt zu einer Traube aus erstarrten Gliedmaßen – und überwuchert von einer Wolke aus Pilzhyphen wie eine Handvoll verschimmelter Früchte. Wenn sie indieser Höhle blieben, würden sie sterben und zur Nahrung für das monströse Gewächs werden, das mit unsichtbaren Fingern nach ihnen tastete und nur darauf wartete, dass sie sich nicht mehr regten.
Nein, das wird nicht geschehen, beschloss Tia. Nicht, solange ich noch Kraft und vier meiner fünf Sinne beisammenhabe. Ich bringe uns alle hier heraus. Das verspreche ich.
Es war eine besondere Angewohnheit Tias, sich selbst Versprechen zu geben – in der Regel beflügelte es ihre Kräfte und vertiefte ihre Konzentration. Schon vieles hatte sie auf diese Weise bewältigt, angefangen mit dem Schock nach jenem lange zurückliegenden Unfall, der zu ihrer Erblindung geführt hatte. Sie hatte in einem Krankenhausbett gelegen, zur unsichtbaren Decke hinaufgestarrt und die Worte des Arztes gehört, der ihr die Sachlage auseinandersetzte. Sie hatte begriffen, dass sie ihr gesamtes weiteres Leben im Dunkeln verbringen würde. Und sie hatte sich selbst ein Versprechen gegeben: Sie würde es schaffen, damit zu leben, und sie würde ein
gutes
Leben haben. Dieses Versprechen hatte sie gehalten.
«Sind Sie noch da?», drang Böttchers Stimme aus dem Headset. Tia erschrak, denn in den vergangenen Minuten hatte sie ihren Funkpartner beinahe vergessen.
«Ja, ich bin hier. Ich habe die anderen an einem halbwegs sicheren Ort zurückgelassen und versuche gerade, einen Ausweg zu finden.»
«Ich weiß», sagte Böttcher, «ich habe mitgehört. Kaum zu glauben, was Sie über diesen Pilz gesagt haben. Ist das denn wirklich …?»
«Bitte seien Sie einen Moment still!», unterbrach ihn Tia. «Ich glaube, ich habe etwas entdeckt.»
In der folgenden Stille verharrte sie reglos mit ausgebreiteten Armen, atmete tief und versuchte ihre Wahrnehmung zu überprüfen.Es dauerte eine Weile, bis sie sicher war, wobei sich das Wasser auf ihrer Haut als hilfreich erwies, denn es machte die Bewegungen der Luft als schwache Kälteschauer fühlbar.
«Irgendwo an der linken Längswand», murmelte sie, «ein gutes Stück über dem Boden.»
«Verraten Sie mir, wovon Sie sprechen?», schaltete Böttcher sich wieder ein.
«Ich spüre eine Konvektion.»
«Konvektion?»
«Eine Luftströmung», erklärte Tia. «Wenn der Raum allseitig geschlossen wäre, dürfte die Luft sich nicht mehr bewegen, weil der Schachtzugang verschüttet ist. Aber ich spüre einen schwachen Sog. Offenbar findet irgendwo ein Luftaustausch statt – vielleicht mit einem anderen Raum, wo die Temperatur höher und der Druck geringer ist.»
«Sie meinen, die Höhle könnte noch mit einem anderen Teil des Bergwerks verbunden sein?»
«Oder mit einer Nebenhöhle. Es ist natürlich möglich, dass es sich nur um einen schmalen Spalt handelt, aber ich werde mir die Sache genauer ansehen.»
Tia kletterte an der linken Flanke des Hügels hinab, die aus Dutzenden durcheinanderliegender Metallfässer bestand. In Bodennähe wurde das Pilzmyzel dichter, einzelne Fadenknäuel spannten sich wie Spinnennetze zwischen dem Hügel und der seitlichen Höhlenwand. Tia fühlte die Fasern über ihre nackten Schenkel streichen.
Nur die Ruhe!, mahnte sie sich selbst, wischte die Fäden beiseite und unterdrückte den Impuls, mit beiden Händen um sich zu schlagen. Der Pilz konnte ihr nichts anhaben, solange sie in Bewegung blieb. Außerdem erinnerte sie sich daran, dass sie fast eine halbe Stunde lang versucht hatte, Dana zu befreien, wobei sie die meiste Zeit auf den Knien gelegen hatte, sodassihre nackten Beine ständig mit dem Myzel in Berührung gewesen waren. Offenbar war sie für den Pilz weniger verwundbar als andere Menschen, auch wenn ihr zurzeit noch kein plausibler Grund dafür einfiel.
Tia erreichte die Höhlenwand und tastete sich daran entlang. Dabei verstärkte sich der Geruch, den sie schon
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