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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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beim ersten Betreten der Höhle wahrgenommen hatte, eine faulige Mischung aus Ammoniak und Schwefel   – Verwesungsgestank.
    Das ist nicht der Pilz, dachte sie.
    Sie zwang sich, innezuhalten und in die Knie zu gehen, um die kreuz und quer verflochtenen Fasern auseinanderzuschieben und den Boden zu betasten. Ihre Fingerspitzen berührten eine zähe, glitschige Substanz.
    «Oh mein Gott.»
    «Was ist los?», meldete sich Böttcher.
    Unter gewöhnlichen Umständen war Tia bemerkenswert unempfindlich gegenüber Dingen, die anderen Menschen Ekel verursachten. Es hing mit ihrer Blindheit zusammen. Seit das Erlöschen ihres Augenlichtes sie auf Geruch und Tastsinn als wesentliche Erkenntnisquellen verwiesen hatte, war ihr die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Gerüchen ebenso abhandengekommen wie zwischen angenehmen und unangenehmen Konsistenzen. Die Welt der Körper und ihrer feinstofflichen Ausdünstungen war vielgestaltig und wunderbar, voller Informationen, die den Menschen gewöhnlich entgingen, weil sie sie mit dem universalen Odium von Reinigungs- und Körperpflegemitteln übertünchten.
    Diesmal jedoch ergriff sogar Tia das Grauen. Was dort nahe der Längswand am Boden lag, war eindeutig eine menschliche Leiche. Ihre Konturen waren kaum noch erkennbar, da der Pilz die unregelmäßigen Erhebungen wie mit einer Decke aus Watte überzogen hatte. Dennoch konnte Tia mit ziemlicher Sicherheiteinen Oberschenkel identifizieren, dann ein Knie und schließlich ein Schienbein. Die Zuordnung der übrigen Körperteile war schwierig. Einige waren zu formlosen Massen zusammengesunken, andere so stark überwuchert, dass kaum noch zu erraten war, ob es sich um Gliedmaßen oder Teile eines Rumpfs handelte. Dann jedoch strichen Tias Fingerspitzen über die Augenhöhle eines Schädels, an dem noch intakte Haut samt Haaren klebte.
    Korrektur:
zwei
Leichen!, erkannte sie, als ihr klar wurde, dass der Schädel in einem anatomisch unmöglichen Winkel zum Rest des Körpers lag.
    Sie zwang sich, ihre Erkundung fortzusetzen, stieß auf eine Stablampe mit ausgelaufenen Batterien, einen Oberarm und schließlich einen weiteren Schädel. Es handelte sich um die Überreste von mindestens zwei Menschen, die dicht beieinander zwischen geborstenen Metallfässern lagen. Ihre Kleidung war nahezu vollständig zerfallen. Lediglich eine Gürtelschnalle und einige Hemdknöpfe aus Kunststoff hatten überdauert. Die Körper jedoch waren nur teilweise verwest und sämtliche Knochen noch von Fleisch umhüllt, das Gewebe war lediglich von einer schleimigen Schicht bedeckt, die vermutlich aus Zersetzungsprodukten der obersten Hautschichten bestand.
    Tia schauderte. So fühlten sich Leichen an, die in nasser Erde oder unter Luftabschluss gelegen hatten. Das Phänomen war ihr aus der Bodenkunde geläufig: Mancherorts hatten die Friedhofsbetreiber Probleme mit Verstorbenen, die noch nach Jahrzehnten nahezu unversehrt in ihren Särgen ruhten, weil die umgebenden Böden zu feucht waren. Nässe und Luftmangel behinderten das Wachstum der Bakterien, die einen Leichnam auflösten, sodass die Verwesung in langwierige Fäulnisprozesse überging. Wie aber war es hier, in frischer, kalter Luft, dazu gekommen?
    Es ist der Pilz, erkannte Tia. Natürlich! Pilze sondern Stoffwechselprodukte ab, die für Bakterien giftig sind – um ihre Nahrungsquelle nicht mit ihnen teilen zu müssen.
    Soweit Tia tasten konnte, waren sämtliche Körperteile von dichtem Myzel überwuchert, dessen Fäden in die Haut eintauchten und ihre Opfer vermutlich bis in die inneren Organe hinein durchwachsen hatten. Tia hatte sich bereits vergeblich gefragt, woher der Pilz die Nährstoffe für sein monströses Wachstum bezog – nun war dieses Rätsel gelöst: Das Gewächs zehrte von menschlichen Körpern. Deshalb hatte es wohl auch Finn und Dana angegriffen: Weil die beiden längere Zeit am selben Fleck gelegen hatten und unterkühlt gewesen waren. Kalte Haut ähnelte toter Haut, denn Kälte schwächte das Immunsystem und verringerte die Durchblutung – leichtes Spiel für einen Organismus, der sich auf die Verwertung von Leichen spezialisiert hatte. Das erklärte auch, warum Tia selbst bisher verschont geblieben war, denn sie fror nicht leicht.
    «Melden Sie sich doch!», drang Böttchers Stimme ungeduldig aus dem Funkgerät. «Was ist passiert?»
    Tia tauchte die besudelte Hand in eine Wasserpfütze und rieb sich heftig die Finger. Im Allgemeinen waren ihre Nerven deutlich stärker als

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