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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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die der meisten Menschen, doch diese Entdeckung forderte sogar ihr einige Selbstbeherrschung ab. Mühsam sammelte sie sich und bog das Mikrophon mit der freien Hand näher zum Mund.
    «Hier liegen zwei Leichen.» Sie sprach leise, damit nur ihr Funkpartner sie hören konnte. Leon, Justin und Dana befanden sich mindestens zwanzig Meter entfernt, und es war weder ratsam noch notwendig, sie mit einem neuerlichen Schock zu konfrontieren.
    «Wahrscheinlich sind sie schon seit Jahren tot. Die Kleidung jedenfalls hat sich vollständig zersetzt.»
    Böttcher schwieg eine Weile. Offenbar hatte es ihm die Sprache verschlagen.
    «Aber Sie können doch gar nichts sehen!», gab er schließlich zu bedenken. «Sind Sie sicher? Vielleicht handelt es sich um Tierkadaver.»
    «Ausgeschlossen. Ich habe menschliche Schädel ertastet, außerdem eine Stablampe mit Zink-Kohle-Batterien   …» Sie hielt inne, denn ihre Finger waren am Boden der Pfütze auf einen weiteren Gegenstand gestoßen: klein, rund und metallisch. Vorsichtig hob sie die flache Scheibe aus dem Wasser. «Und ein Geldstück! Wahrscheinlich hatte einer der Toten es in der Tasche.»
    «Das ist ja unglaublich!»
    «Allerdings. Ich würde gern wissen, wer diese Menschen waren und wie sie zu Tode gekommen sind.»
    «Vielleicht stammen die Leichen noch aus der Betriebszeit des Bergwerks.»
    «Definitiv nicht», sagte Tia, die das Geldstück zwischen den Fingerspitzen drehte. «Ich habe hier einen Zloty in der Hand.»
    «Einen was?»
    «Eine polnische Münze   – Prägedatum 1992.»
    «Wollen Sie behaupten, dass Sie die Prägung entziffern können?»
    «Ich bin blind, Herr Böttcher. Mit den Fingerspitzen zu lesen gehört für mich zum Alltag.»
    «Und was schließen Sie aus Ihrem Fund?»
    «Dass die Toten keine Bergarbeiter waren. Das Bergwerk wurde in den sechziger Jahren stillgelegt, und diese Männer haben es nicht vor 1992 betreten. Außerdem finde ich nirgends Helme.»
    «Dann waren es vielleicht Laienforscher. Sie könnten hier eingedrungen sein, bevor Herr Bringshaus die Überwachung derAnlage übernahm, und sind vielleicht durch einen Unglücksfall zu Tode gekommen.»
    «Möglich. Jedenfalls sollte die Angelegenheit polizeilich überprüft werden. Vielleicht passt irgendeine Vermisstenmeldung dazu.» Tia schob die Münze in eine Tasche ihres Cave-Suits. «Aber das muss warten, bis ich die anderen hier herausgeschafft habe.»
    «Werden Sie ihnen von den Leichen erzählen?»
    Tia biss sich auf die Lippen. «Nein, das sollte ich lieber nicht tun. Sie haben schon genug Angst – besonders Dana und Justin. Wenn ich ihnen sage, dass schon einmal Menschen hier unten waren und nicht mehr lebend herausgekommen sind   …»
    «Sehr vernünftig», stimmte Böttcher zu. «Es ist bestimmt besser, wenn Sie das für sich behalten.»
    «Und wenn ich so schnell wie möglich einen Ausgang finde», fügte Tia hinzu. «Ich gehe jetzt weiter und suche die Quelle des Luftstroms.»
    Sie wandte sich zum Gehen, hielt jedoch inne, als sie ein leichtes Brennen an ihrer nackten Wade über dem Stiefelabsatz spürte. Erschrocken tastete sie nach der Stelle – und fand ein kleines Büschel Pilzhyphen, deren Enden ihre Haut berührten.
    «Verdammtes Biest!», zischte sie und wischte die Fäden weg. «Lass mich bloß in Ruhe!»
    «Tia?», rief eine entfernte Stimme. Sie erkannte Leon. «Ist alles in Ordnung?»
    Reiß dich jetzt bloß zusammen!, befahl sich Tia. «Ja, alles in Ordnung!», rief sie mit gezwungen munterer Stimme zurück. «Warte noch einen Moment, ich komme gleich zurück.»
    Sie tastete sich voran, bis sie sicher war, den schwachen Luftstrom aus nächster Nähe zu spüren. Unmittelbar vor ihr verschlang sich das Pilzmyzel zu einem kniehohen Haufen und wucherte in parallelen Strängen die Wand hinauf, eng an dasGestein geschmiegt. Tia streckte die Arme aus und erfühlte einen Felsspalt, fast mannshoch über dem Boden, durch den die Fasern sich in einen jenseitigen Hohlraum hinauswanden. Der Pilz hatte den Ausgang also auch entdeckt. Die Öffnung war länglich, immerhin einen halben Meter breit und damit groß genug, um einen Menschen hindurchzulassen – sofern der Betreffende schlank war und gut klettern konnte. Die einströmende Luft war vielleicht ein oder zwei Grad wärmer als am Boden der Höhle.
    Das ist unsere Chance!, dachte Tia. Von hier aus gibt es irgendeine Verbindung zur Tagwelt.
    Unvermittelt kam ihr die Idee, eines der Metallfässer zur Wand zu schaffen und

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