Das Geflecht
Lichter auf. Im nächsten Augenblick traten mehrere Männer ein, begleitet von Havermann, dem Rettungsleiter. Sie trugen dunkelrote Overalls und weiße Schutzhelme mit eingebauten Lampen.
«’n Abend», sagte einer der Männer. «Schultze, Landesverband für Höhlenrettung.» Er blickte sich in der zur Hälfte eingestürzten Kammer um. «Himmel, das kann ja ewig dauern, bis wir uns da durchgegraben haben. Wie geht es den Eingeschlossenen?»
«Sie sind weitgehend unverletzt», antwortete Bringshaus aufatmend. «Die Speläologin kümmert sich um sie.»
Er war zutiefst erleichtert über die Ankunft des Rettungsteams, aber auch darüber, nicht mehr mit Böttcher allein zu sein. Aus dem Augenwinkel sah er, wie dieser ihm einen warnenden Blick zuwarf. Bringshaus verstand mühelos: Kein falsches Wort!
«Diese Frau Traveen, nicht wahr?», fragte Schultze. «Ich hab schon von ihr gehört.»
«Sie hat einen Ausgang aus der Höhle gefunden», sagte Böttcher. «Es ist nicht mehr nötig, dass Sie graben.»
«Einen Ausgang? Wohin?»
«Zu einem Gangsystem, das ihrer Meinung nach irgendwo außerhalb des Bergwerks mündet.»
Schultze zog die Augenbrauen hoch. «Das kann sie doch gar nicht wissen!»
«Sie orientiert sich an den Luftströmungen», erklärte Bringshaus. «Es ist unglaublich – als ob sie im Dunkeln sehen könnte.»
«Und sie hat uns gebeten, nach dem Ausgang zu suchen», ergänzte Böttcher. «Sie glaubt, dass er an der südöstlichen Bergflanke liegt, drei- bis fünfhundert Meter von hier entfernt.»
Schultze erschrak sichtlich. «Das ist doch Irrsinn! Sie solllieber bleiben, wo sie ist! In einer Stunde trifft ein Transporter mit Räumgeräten ein. Dann können wir anfangen zu graben.»
«Zu spät.» Böttcher hielt das Funkgerät hoch. «Wir haben keine Verbindung mehr.»
«Und wie sollen wir diesen Ausgang finden?», fragte Schultze kopfschüttelnd. «Wir haben ein Geo-Radar an Bord, aber das wird uns nicht viel nützen, solange wir keinen Hinweis auf die richtige Stelle haben. Sollen wir in stockdunkler Nacht irgendeinen Erdspalt suchen, der womöglich unter Gras oder Gebüsch verborgen liegt?»
«Bitte, tun Sie es!», flehte Bringshaus. «Mein Sohn ist da unten, und eine andere Chance haben wir nicht.»
Schultze blickte von ihm zu Böttcher, dann nochmals auf die Wand aus Schutt und Felsbrocken, wobei er sich nachdenklich die Lippen knetete. «Richtung Südosten, ja?»
Böttcher nickte. «Sie sagte, wir sollen nach Spalten in Steilhängen oder einer trichterförmigen Senke Ausschau halten.»
«Das müsste doch zu machen sein!», meinte Havermann. «Ich habe zehn Feuerwehrmänner hier, und Sie sind zu sechst. Wenn wir uns alle zusammentun und noch ein paar freiwillige Helfer einspannen …»
«Na schön», entschloss sich Schultze.
«Vielleicht können wir Ihnen helfen», bot Bringshaus an. «Ich habe vor einigen Jahren Vermessungen im Gelände vorgenommen und kenne die Gegend.»
«Gut! Allerdings sollten Sie erst mal beim Notarzt vorbeischauen, wenn wir oben sind», meinte Schultze, der seine geschwollene Wange musterte. «Sie sind ja verletzt.»
«Ach, das ist nichts weiter.» Bringshaus wandte sich ein wenig zur Seite, um die geplatzte Lippe zu verbergen.
«Also dann!» Schultze wandte sich seiner Truppe zu. «Zurück nach oben.»
••• 00 : 15 ••• TIA •••
Der unterirdische Gang, der von der Nebenhöhle abzweigte, führte in gerader Linie voran und war breit genug, um aufrecht gehend durchquert zu werden. Dennoch kämpfte sich die kleine Gruppe nur zentimeterweise vorwärts. Tia hatte allen eingeschärft, sich extrem langsam und vorsichtig zu bewegen, denn sie wusste, wie leicht sehende Menschen in vollkommener Dunkelheit ins Stolpern kamen, über Hindernisse stürzten oder sich die Köpfe anschlugen. Das hier war etwas anderes, als sich durch einen dunklen Flur zu tasten, um den Lichtschalter zu finden: Eine Ganghöhle war nicht sauber geschlagen wie ein Bergwerksstollen, sondern voller Verwerfungen, Vorsprünge und Engpässe. Zudem war der Boden keineswegs eben, sondern neigte sich ständig in unterschiedlichen Winkeln, sodass aufrechtes Gehen einen erheblichen Balanceakt erforderte. Trotzdem hatte Tia beschlossen, dass sie nicht auf allen Vieren kriechen würden, solange es sich vermeiden ließ. Zum einen musste Dana auf diese Weise ihren verletzten Arm nicht belasten, zum anderen blieb es ihnen erspart, ständig die Pilzranken zu berühren.
Mittlerweile
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