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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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Netzen, strebten sternförmig in verschiedene Richtungen und verzweigten sich wie Fühler, die die Umgebung erkundeten. Erst nach mehreren Minuten war sich Tia sicher, dass der Großteil der Fasern auf eine Öffnung im linken Teil des Hohlraums zustrebte. Es war nicht mehr als ein Tunnel, kaum einen Meter breit und ebenso hoch.
    «Hier hinein! Vorsicht, es ist eng da drinnen. Dana, bleiben Sie dicht bei mir!»
    Sie krochen hinein, einer hinter dem anderen. Tia hörte die Geräusche hinter sich, das Scharren von Kleidung auf Stein, das Keuchen und Stöhnen, eigentümlich verstärkt in der engen Röhre. Inbrünstig hoffte sie, dass niemand einen Anfall von Panik erlitt, wie es in derartigen Situationen nicht selten vorkam. Klaustrophobie steckte in jedem Menschen, es kam lediglich auf den Grad der Beengung an. Manche bekamen bereits Schweißausbrüche, wenn sie einen Fahrstuhl benutzen sollten, bei anderen wurde die Schwelle erst überschritten, wenn man sie in den Wolframzylinder eines Computertomographen schob. Manchmal schlugen die Betroffenen wild um sich – und hier, in diesem engen Tunnel, würde ein derartiger Anfall leicht zu Verletzungen führen.
    Angespannt lauschte Tia auf Danas Atem, der in ein krampfhaftes Hecheln übergegangen war.
    Hyperventilation, dachte sie besorgt. Erste Vorstufe einer Panikattacke.
    «Dana, Sie atmen zu schnell! Hier ist genügend Luft, und sie ist kühl und frisch. Ihre Lunge kriegt reichlich Sauerstoff. Alles wird gut! Hören Sie, was ich sage?
Alles wird gut.
Konzentrieren Sie sich auf Ihren Atem: Und
ein
– und
aus
», gab Tialangsam das Tempo vor. «Und
ein
– und
aus
. Folgen Sie dem Rhythmus:
Ein
– und
aus.
Gut so! Es kann nicht mehr weit sein. Bestimmt wird der Tunnel gleich breiter.»
    Sie atmete auf, als der Zufall ihre Behauptung Wahrheit werden ließ. Tatsächlich weitete sich der Gang, während er zugleich eine scharfe Biegung nach rechts machte.
    «Okay, geschafft. Wir können uns wieder aufrichten. Tasten Sie sich Hände und Gesicht ab! Wenn Pilzfäden auf der Kleidung hängengeblieben sind, wischen Sie sie herunter. Dana, halten Sie still, ich mache das bei Ihnen.»
    Sie ahnte, dass das Mädchen mit ihren tauben Fingern kaum noch in der Lage war, sich zu untersuchen. Tia nutzte die Gelegenheit, sie ein wenig zu wärmen, legte ihr die Hände auf Stirn und Wangen und lüftete sogar kurz ihren Helm, um ihr übers Haar zu streichen. Die Haut des Mädchens war kalt wie Porzellan, und ihre Lippen bebten.
    «Sie sind sehr tapfer», sagte Tia. «Halten Sie noch ein wenig durch. Wie geht es Ihrer Schulter?»
    «Schon okay», flüsterte Dana. «Aber mein Bein   … Es brennt so!»
    Tia ging in die Knie, um das Hosenbein hochzuschieben und Danas Knöchel zu befühlen. Sie bemühte sich, einen Laut des Erschreckens zu unterdrücken. Die vom Pilz befallene Hautpartie war noch immer geschwollen. Außerdem hatten die übriggebliebenen Fäden sich zu einem festen Belag verfilzt und auf die Größe eines Handtellers ausgebreitet.
    Er wächst, erkannte Tia. Er versucht, ein neues Myzel zu bilden   … offenbar sagt der Nährboden ihm zu.
    «Stillhalten!» Sie zog ihr Messer hervor und begann, den Belag vorsichtig mit der flachen Klinge abzuschaben.
    «Was tun Sie da?», flüsterte Dana.
    «Ein paar der Fäden haben sich ausgebreitet», erklärte Tia.
    «Die wachsen weiter?», fragte Justin ungläubig. «Wie geht das denn?»
    «Klonales Wachstum. Ein Pilz ist zwar ein einzelnes Lebewesen, aber wenn man ihn zerstückelt, kann jeder Teil selbständig weiterleben und zu einem neuen Pilz heranwachsen.»
    «Was?», fuhr Dana entsetzt auf. «Soll das heißen, dass
auf mir
ein Pilz wächst?»
    «Halten Sie still!», wiederholte Tia, die noch nicht fertig war und fürchtete, das Mädchen mit der Klinge zu verletzen. «Ihr Immunsystem wird verhindern, dass er sich ausbreitet. Sie sind nur unterkühlt, deshalb ist Ihre Abwehr geschwächt. Wir werden rasten, damit Sie sich aufwärmen können – sobald ich einen geeigneten Platz dafür finde.»
    «Ich will gar nicht rasten!», wimmerte Dana, deren Stimme gefährlich schwankte. «Ich will hier
raus

    «Alles wird gut, Dana.»
    «
Nichts
wird gut!», platzte Dana plötzlich heraus. «Seien Sie ehrlich: Sie wissen doch überhaupt nicht, wo der Ausgang liegt, oder?»
    «Noch nicht», korrigierte Tia, schob das Hosenbein wieder herab und richtete sich auf. «Aber es kann nicht mehr weit sein. Vertrauen Sie mir.»
    «Vertrauen?», schrie Dana

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