Das Geflecht
Dunkeln.
«Ich heiße Leon Berner, bin achtundzwanzig Jahre alt und arbeite als Geophysiker bei einem Berliner Ingenieurbüro.»
«Was, das war’s schon?», protestierte Dana. «Wie sehen Sie denn aus? Ich würde Sie mir gerne vorstellen können.»
«Tja, also, ich bin eins neunundachtzig groß, blond …» Erneut gingen Leon die Worte aus. Das Spiel, das er selbst vorgeschlagen hatte, begann ihm peinlich zu werden.
«Er sieht gut aus», sprang Tia unvermutet ein. «Jedenfalls sagt das meine Freundin Adele.»
«Ach wirklich?», entfuhr es Leon.
«Ja, sie meint, du hättest so einen jungenhaften Charme», erklärte Tia gelassen. «Und der Dreitagebart passt angeblich gut zu deinem kräftigen Kinn.»
Gut, dass mich gerade niemand sehen kann, dachte Leon errötend.
«Sie sind dran, Justin!», gab Tia das Wort weiter.
«Also», begann der Angeredete, «ich bin Justin Bringshaus, siebzehn Jahre … von Beruf noch nichts. Ich hab gerade gestern meinen Realschulabschluss bekommen. Mein Vater meint, ich soll auch noch Abitur machen und Betriebswirtschaft studieren, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich das schaffe. Hobbys: Computerspiele und meine Handballmannschaft. Haarfarbe: schwarz. Augenfarbe …»
«Schokoladenbraun», half Dana, als er stockte. «Die schönsten, treuesten Augen der Welt.» Justin schluckte hörbar.
«Und Sie, Dana?», fragte Tia.
«Dana Christina Novak, siebzehn Jahre alt», spulte Dana ohne Verlegenheit ab. «Eins siebenundsechzig groß, Gewicht wird nicht verraten. Augen: grün. Haare: rotblond und lockig – bei der feuchten Luft hier stehen sie bestimmt zu Berge wie ein Distelbusch. Was ich mag: Lesen, Radfahren, Faulenzen. Was ich nicht mag: Arroganz, Oberflächlichkeit, Regenwetter, das Gefühl nach fettem Essen … Spinnen … und Dunkelheit», schloss sie mit etwas verzagter Stimme.
«Und jetzt Sie!», mahnte Justin in Tias Richtung.
«Tia Traveen. Ich bin siebenundzwanzig, studiere Geologie und Biochemie in Berlin und tüftle seit Jahren an meiner Doktorarbeit. Dass sie endlich fertig wird, verhindert wohl meine Leidenschaft für Höhlen, denn in meiner Freizeit gehe ich lieber auf Reisen, statt zu Hause zu sitzen und zu arbeiten. Eigentlich ist es reiner Zufall, dass ich hier bin. Justins Vater hatte in der Zeitung etwas über mich gelesen.»
«Das gibt’s doch nicht!», fuhr Justin auf. «Ich hab in den Nachrichten von diesem Schachteinsturz gehört, in … Wo war das gleich?»
«Biedersheim», half Tia.
«Genau! In den Nachrichten hieß es, dass eine Frau die Leute gerettet hat – das waren
Sie?
»
«Wir beide», korrigierte Tia. «Leon und ich.»
«Ist ja ’n Ding!», staunte Justin. «Darauf hätte ich eigentlich längst kommen müssen. In den Nachrichten war nämlich auch davon die Rede, dass Sie blind sind.»
«Kaum zu glauben», flüsterte Dana.
«Hier unten macht es ja auch keinen Unterschied», meinte Tia. «Dafür kann ich mich umso besser auf mein Gehör und meinen Geruchssinn verlassen.»
«Ich kann mir das gar nicht vorstellen», sagte Dana nachdenklich. «Ich meine: immer im Dunkeln zu leben. Es geht mich ja nichts an, aber … sehen Sie denn
überhaupt
nichts?»
Leon wusste, dass Tia nachsichtig lächelte. Fragen dieser Art war sie gewohnt.
«Nein», antwortete sie ruhig. «Ich sehe nicht einmal hell und dunkel, nur schwarze Flächen. Meine Sehnerven wurden zerstört.»
«Mein Gott.» Dana schwieg einen Moment betroffen. «Träumen Sie? Ich meine: Sehen Sie etwas, wenn Sie schlafen?»
«Oh ja. Ich weiß nicht, wie es sich bei Menschen verhält, die von Geburt an blind waren. Ich aber habe zwölf Jahre lang die Welt des Lichts gesehen, und wenn ich träume, ist sie immer noch da.»
«Was sehen Sie im Traum?»
«Meistens Szenen aus meiner Kindheit oder Menschen, die ich vor meinem Unfall kannte. Und manchmal – ganz selten – sehe ich Menschen, die ich in Wahrheit noch nie gesehen habe.»
«Wirklich? Wen?»
«Leon zum Beispiel. Es ist seltsam: Im Traum sehe ich ihn nicht so, wie er wirklich aussieht. Er ist viel kleiner, und seine Haare sind dunkel – keine Ahnung, warum. Da ich Leon nie gesehen habe, verschmilzt ihn mein Unterbewusstsein wahrscheinlichmit Personen, die ich kannte, als ich noch sehen konnte. Mein Gehirn setzt ihm sozusagen eine Maske auf.»
«Ist ja nett, dass ich das auch mal erfahre», warf Leon ein.
Tia lachte. «Tut mir leid. Ich ahnte ja nicht, dass du dich für meine Träume interessierst.»
Du
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