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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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Vielleicht wäre es doch eine gute Idee, sich diesen Nebenstollen einmal anzusehen.»
    «Aber die Traveen hat gesagt, wir sollen im Südosten suchen.»
    «Sie kann sich doch irren! Vielleicht muss sie Umwege machen und unterwegs die Richtung wechseln. Kennst du diesen Duwengrund?»
    «Wie gesagt, das war einmal ein Campingplatz. Ich war nur ein einziges Mal dort, vor Jahren mit meiner Exfrau.»
    «Immerhin ist das die einzige Spur, die wir haben», gab Böttcher zu bedenken. «Wir sollten uns dort einmal umsehen.»
    «Da wären wir aber einige Zeit unterwegs, denn wir müssten den ganzen Bergfuß umrunden.»
    «Kommt man nicht mit dem Auto dorthin?»
    «Nur über einen langen Umweg. Die Straßen sind gesperrt, seit das Gelände unter Naturschutz steht.»
    «Dann laufen wir eben. Lampen haben wir ja.»
    «Sollten wir nicht erst einmal Schultze und seinen Männern Bescheid sagen?»
    «Ach was!», meinte Böttcher. «Die sind doch längst in die Gegenrichtung abgezogen. Lass uns erst einmal schauen, ob an der Sache etwas dran ist, bevor wir Alarm schlagen.»
    Bringshaus blieb stehen und dachte nach. Das klang einleuchtend. Allerdings irritierte ihn der plötzliche Sinneswandel. Normalerweise war Böttcher nicht der Mann, der leicht von einer einmal gefassten Meinung abwich. Und er war ein Stratege – das war immer so gewesen, schon beim Aushecken ihrer Jugendstreiche. Er legte Wert darauf, dass niemand ihm jemals zu tief in die Karten schaute. Konnte Bringshaus es wagen, sich allein mit ihm von den anderen zu entfernen?
    Er entschloss sich, reinen Tisch zu machen, und blickte seinem alten Schulfreund gerade ins Gesicht.
    «Hartmut? Ich kenne dich. Sei ehrlich: Führst du irgendetwas im Schilde?»
    Böttchers graue Augen blieben unergründlich wie stets. Doch als er antwortete, klang seine Stimme aufrichtig.
    «Hör zu, Jörn», begann er. «Diese ganze Geschichte ist extrem unerfreulich, für uns beide. Ich gebe zu: Es kam mir gelegen, dass die Traveen beschlossen hat, einen Ausgang aus der Höhle zu suchen, denn dass die Rettungsleute den Müllschacht freigraben und sich da unten umsehen, wäre keine gute Alternative. Ich will mit heiler Haut aus dieser Sache herauskommen – aber ich will
auch,
dass dein Sohn gerettet wird, das schwöre ich dir. Und ich halte das, was die Reporterin herausgefunden hat, wirklich für eine Spur. Deshalb bin ich dafür, dass wir zu diesem Campingplatz gehen und nach dem Nebenstollen suchen. Ich wäre sogar bereit, es alleine zu machen, falls du dich lieber Schultzes Leuten anschließen willst.» Er zögerte kurz. «Und im Übrigen   … tut es mir leid, dass ich dir da unten eine geballert habe.»
    Bringshaus musterte ihn prüfend.
    «Frieden?», fragte Böttcher fast demütig.
    Bringshaus seufzte. «Na schön – Frieden.»
    «Gehen wir?»
    «Gehen wir.»

••• 01   :   15 ••• LEON •••
    Leon ließ sich mit dem Rücken zur Wand in die Knie sinken und atmete tief durch. Gegen eine Verschnaufpause hatte er nichts einzuwenden. Zwar teilte er Tias Faszination für Höhlen, doch war es ganz und gar nicht seine Sache, sich in vollkommener Finsternis durch unsichtbare Hohlräume voranzukämpfen. Wenn Leon ehrlich war, bevorzugte er die Sightseeing-Version: weite Hallen mit ausreichender Beleuchtung, am besten vollerschlossen für den Besucherverkehr.
    Die Dunkelheit machte ihm schwerer zu schaffen, als er erwartet hatte. Sich an einer Stollendecke den Kopf zu stoßen oder über ein Hindernis zu stolpern war noch das geringste Problem. Dauernder Reizentzug – das wusste Leon – konnte die Nerven zerrütten und sogar zu Halluzinationen führen. Versuchspersonen, die in eine lichtlose Isolationszelle gesteckt wurden, gerieten bereits nach kurzer Zeit in eine Art Delirium, als ob sie bei vollem Bewusstsein träumten. Leon konnte das jetzt nachempfinden: Aus dem vollkommenen Nichts stiegen Erscheinungen auf, Visionen aus tieferen Schichten der Seele – ähnlich jenen monströsen Tiefseefischen, die gewöhnlich in Tausenden Metern Tiefe lebten und nur in den finstersten Nächten an die Meeresoberfläche kamen. Wenn man sich nicht ständig auf seine Umgebung konzentrierte, begann man sichalles Mögliche einzubilden: schattenhafte Bewegungen, Lichtflecken, kurze Blitze oder wabernde Schemen. Manchmal verdichteten sie sich zu Gestalten von vager Vertrautheit, sogar zu Gesichtern, die man seit Jahren nicht mehr gesehen hatte – als ob das Gehirn verzweifelt versuchte, die Leere

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