Das Geflecht
zu füllen, indem es Erinnerungen abrief. Kein Wunder, dass manche Menschen an Gespenster glaubten: Die Dunkelheit erzeugte sie wie von selbst.
«Ich schalte jetzt die Heizdecke ein», kündigte Tia an. «Eine halbe Stunde sollte der Akku schaffen.»
Das beweist den Ernst der Lage, dachte Leon.
Normalerweise war die Heizdecke für den äußersten Notfall bestimmt, zum Beispiel, um einen Schwerverletzten vor dem Erfrieren zu retten. Wenn der Akku leer war, würde es keine Wärmequelle mehr geben – dann waren sie darauf angewiesen, so schnell wie möglich den Ausgang zu finden.
«Außerdem sollten wir etwas zu uns nehmen», entschied Tia. «Ich habe eine Literflasche isotonischen Durstlöscher und ein paar Snacks im Gepäck.»
«Also,
ich
kann jetzt nichts essen», wehrte Justin ab.
«Doch, Sie müssen!», beharrte Tia. «Wir sind alle unterkühlt und brauchen dringend Brennstoff. Hier, nehmen Sie das – es ist ein Schokoriegel.»
Tia verteilte die Notfallration und reichte allen nacheinander die Trinkflasche. «Dana, wickeln Sie sich in die Heizdecke!»
Dana gehorchte. Eine Weile sagte niemand etwas. Aus reiner Vernunft aß auch Leon einen Schokoriegel, während er auf den keuchenden Atem des Mädchens lauschte. Es dauerte mehrere Minuten, bis das Geräusch sich allmählich beruhigte und in eine normale Frequenz überging.
«Schon besser», brachte Dana schließlich hervor. Und dann, ganz unvermittelt, begann sie haltlos wie ein Kind zu weinen.Justin versuchte sie ungeschickt zu trösten, doch es half nichts – ihr Schluchzen erfüllte den ganzen Raum. Es war kaum zu ertragen, fand Leon. Am liebsten hätte er sich zu dem Mädchen gesetzt und ihre Hand gehalten, sagte sich aber, dass das die Aufgabe ihres Freundes war.
Tia war weniger zurückhaltend. Ein Scharren und eine Verlagerung ihrer Stimme zeigten an, dass sie näher herangerutscht war und Dana fest in die Arme schloss.
«Arme Dana», sagte sie. «Sie waren sehr tapfer, aber jetzt dürfen Sie ruhig klein und hilflos sein. Ich bin bei Ihnen.»
Ihre Stimme, gewöhnlich so kühl und souverän, war überraschend sanft geworden. Leon spürte, wie sich seine Arme bei diesem Klang mit einer Gänsehaut überzogen. Er kannte diesen Ton, den er bei sich Tias Samtstimme nannte. Sie kam nur selten zum Vorschein, gewöhnlich dann, wenn Tia mit Kindern oder mit Tieren zu tun hatte, gelegentlich auch bei Telefongesprächen mit ihrem Vater – niemals jedoch ihm gegenüber. Das war vermutlich gut so, denn die Ahnung dieser Zärtlichkeit, die sie gewöhnlich verbarg, ließ seine Knie weich werden.
«Es tut mir leid, was ich vorhin gesagt habe», schluchzte Dana. «Es ist nur diese furchtbare Dunkelheit … Sie macht mich ganz wirr im Kopf … Ich glaube, ich verliere den Verstand, wenn ich nicht bald irgendetwas sehe, wenigstens die Hand vor Augen …»
«Ich lebe seit fünfzehn Jahren in vollkommener Dunkelheit», sagte Tias Samtstimme. «Und ich versichere Ihnen, dass Sie von der Dunkelheit nichts zu befürchten haben. Sie ist meine Freundin geworden – und ich bin
Ihre
Freundin, wenn Sie wollen. Ist es in Ordnung, wenn ich Sie ein wenig halte?»
In der folgenden Stille malte Leon sich aus, welches anrührende Bild die Finsternis verbarg: Tia, die das siebzehnjährige Mädchen an sich gedrückt hielt, einen Arm um ihre Schulterngelegt, die andere Hand auf Danas Kopf, der in ihrer Halsbeuge ruhte. Ob Tia ihr Haar streichelte? Er versuchte es sich vorzustellen: die flüssige Bewegung, die sanft gleitenden Finger.
«Sie sind so lieb zu mir … und ich war so gemein zu Ihnen», flüsterte Dana beschämt. «Wahrscheinlich bin ich auch noch schuld, wenn wir hier nicht herauskommen. Als ich vorhin in diesem Durchgang feststeckte, haben Sie bestimmt gedacht: Was für ein dummes, hysterisches Girlie, und dazu auch noch fett!»
Tia lachte gutmütig.
«Ist doch wahr, oder nicht?», stieß Dana gepresst hervor. «Wenn solche Dinge in Filmen passieren, sind es immer die Hysterischen und die Dicken, die als Erste draufgehen.»
«Dies ist aber kein Film, Dana», sagte Tia sanft. «Und Sie sind auch nicht hysterisch.»
«Aber dick! Ich passe nicht einmal in diesen verdammten Overall. Der Reißverschluss geht nicht zu.»
«Mein Gott, Dana! Sie stürzen in eine Höhle, stecken stundenlang in einer Felsspalte, erfrieren fast – und machen sich Vorwürfe, weil Sie nicht Größe sechsunddreißig tragen?»
«Ja, das tut sie ungefähr zehnmal täglich», warf
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