Das Geflecht
hatte die Achseln gezuckt und geantwortet: «Überhaupt nicht.»
Das hatte Adele nicht vergessen, und so war es zu jenem Geschenk gekommen, das Tia – höflich, wie sie war – nicht zurückweisen mochte. Also hatte Adele an Tias Geburtstag mit dem Schminkkoffer vor der Tür gestanden, verheißungsvoll gelächelt und ihre Freundin geschlagene viereinhalb Stunden im Bad festgehalten. Als die beiden fertig waren, hatte Adele ihre Versuchsperson ins Wohnzimmer geführt und Leon gerufen. Die wohlmeinende Absicht hatte darin bestanden, dass Tia sich die Leistung, deren Wert sie selbst nicht begutachten konnte, von männlichen Augen bestätigen lassen sollte.
Leon hätte ihr gern den Gefallen getan, doch als Adele ihn mit der Miene eines Weihnachtsmanns ins Zimmer geführt hatte, der die Kinder zum Tannenbaum ruft, war er schlichtweg sprachlos gewesen. Er wusste, dass Tia eine attraktive Frau war – niemand wusste es besser als er, zumal sie sich nicht scheute, gelegentlich halbnackt durch die Wohnung zu laufen. Er hatte sich an das ungeschminkte Gesicht und die sportlich-schmucklose Kleidung gewöhnt, die sie bevorzugte, und der unvermeidlichen Verfremdung durch eine stundenlange Schminkorgie eher mit Skepsis entgegengesehen. In der Tat – der Anblick war ein Schock gewesen, doch in anderer Weise, als er erwartet hatte.
Adele hatte ihre Freundin in lässiger Haltung auf dem Sofa drapiert wie eine Filmschönheit aus dem vergangenen Jahrhundert, mit ausgestreckt übergeschlagenen Beinen, aufgerichtetemOberkörper und einer lässig über die Lehne gelegten Hand. Tia trug ein schwarzes, weich fließendes Kleid, von dem er gar nicht gewusst hatte, dass sie es besaß. Wahrscheinlich hing es seit ihrer Teenagerzeit unbenutzt im Schrank. Ihr stets leicht zerzaustes, rostbraunes Haar war geglättet und in seidig glänzenden Wellen hinter das linke Ohr gestrichen. Ihre Wangen waren gepudert, die Lippen dezent bemalt und die goldbraunen Augen, deren zielloser Blick ihr stets einen Ausdruck von Nachdenklichkeit verlieh, wirkten dunkler und ausdrucksvoller denn je.
Leon hatte versucht, sich ein unverfängliches Kompliment abzuringen. Am Ende jedoch hatte er kein Wort hervorgebracht. Er hatte einfach nur dagestanden, überwältigt von dem Anblick, und immerfort dasselbe gedacht: Das ist die schönste Frau, die ich jemals gesehen habe.
Adele war bitter enttäuscht gewesen, dass der erwartete Beifallssturm ausblieb. Sie hatte irgendetwas gemurmelt wie «Männer haben einfach keinen Blick dafür», wohl in der unnötigen Absicht, ihre Freundin zu trösten. Tia freilich hatte das ganze Spiel nicht besonders ernst genommen und es später, als sie Leon wieder mit unverfremdetem Gesicht und im Jogginganzug gegenüberstand, auch nicht mehr erwähnt.
Leon jedoch hatte es nie vergessen.
Dieses Bild nehme ich eines Tages mit ins Grab, hatte er gedacht, für seine Verhältnisse ungewohnt melodramatisch. So wie den Schnee auf dem Matterhorn, den Sonnenuntergang beim Flug übers Mittelmeer oder die Überreichung meines Diploms.
Leon legte keinen Wert auf Fotos, aber wenn er ein Album besessen hätte, wäre diese Momentaufnahme darin auf einer Doppelseite erschienen, mit Goldrand und Kritzeleien umgeben, für deren schwärmerische Naivität er sich vor jedem Betrachter geschämt hätte. Titel:
Tia im Abendkleid. Ein Traum.
Plötzlich hörte er, wie das Wasser in Bewegung geriet. Luftblasen gluckerten empor und zerplatzten an der Oberfläche.
Oh mein Gott, dachte Leon, und obwohl er alles andere als ein gläubiger Mensch war, flehte er plötzlich zu irgendeiner höheren Macht. Bitte … bitte …
Das Geräusch verebbte, zerging in der Dunkelheit. Eine Sekunde lang saß Leon stumm in der Stille, lauschte, hoffte – verzweifelte. Doch dann plötzlich spritzte das Wasser auf wie ein Geysir, und ein Körper schoss mit der Geschwindigkeit eines losgelassenen Korkens an die Oberfläche. Fingernägel schrammten hörbar über die Felsstufen am Ufer. Etwas Weiches klatschte auf den Boden, und Leon begriff, dass es nasse Haare waren.
«Hier!», versuchte er zu schreien, doch seine vor Kälte verengte Brust brachte nur ein zittriges Quieken hervor.
Aus der Dunkelheit drang ein Ruf herüber.
«Leon?»
«Ich bin hier!», wiederholte er.
«Gott sei Dank.» Tia seufzte, und endlich erkannte Leon eindeutig ihre Stimme.
In letzter Minute, dachte er, kaum fähig, das Wunder zu fassen. Oder zumindest in den letzten fünfzehn oder dreißig
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