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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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hier herabgestürzt und qualvoll verendet waren.
    Noch immer blinkte dort oben jener einzelne Stern. Bringshaus konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Die Oberwelt war so nah und dennoch unerreichbar – eine Welt, in der Gras und Büsche wuchsen, Kiefernnadeln im Nachtwind rauschten und frische Luft über die Berghänge strich.
    Eine Zeitlang kam ihm das ferne Blinken kalt und höhnisch vor. Allmählich jedoch erschien es ihm tröstlich, wie ein Gruß aus einer anderen Welt.
    Was auch immer geschieht, dachte er, ich sehe wenigstens noch einen Stern.

••• 03   :   15 ••• LEON •••
    Leon zitterte, als hätte er hohes Fieber. Es war so gut wie unmöglich, diesen Reflex zu beherrschen. Dennoch hatte er die Knie an den Körper gezogen und mit beiden Armen umschlungen, um die krampfhaften Wellen einzudämmen, die seine Muskeln durchliefen. Wie lange er mittlerweile in seinem stockdunklen Gefängnis saß, hätte er nicht zu sagen gewusst. Vielleicht eine halbe Stunde, vielleicht länger. Dass der Raum in der Tat ein Gefängnis war, hatte er durch eine rasche Erkundung festgestellt: Die steinerne Kammer war glockenförmig, nur wenige Meter breit und allseitig von geschlossenen Wänden umgeben. Den einzigen Ausgang bildete das Wasserloch, aus dem er aufgetaucht war, eine ovale Öffnung in der Mitte des Bodens.
    Die Idee, wieder in den Syphon hinabzutauchen, hatte Leon schon in den ersten Minuten abgetan. Es wäre sein Tod gewesen. Normalerweise war er ein guter Schwimmer, wenngleich er es nicht mit Tia aufnehmen konnte, die schwamm und tauchte wie ein Otter. Doch in dem pechschwarzen Wasser konnte er sich nicht im mindesten orientieren und hatte keine Ahnung, in welche Richtung er sich halten sollte. Zudem war er halb erfroren und spürte deutlich, dass jeder weitere Tauchgang in kurzer Zeit mit einem Herzstillstand enden konnte. Von alldem abgesehen, schmerzte sein angeschlagenes Bein heftig, sodass er kaum auftreten konnte.
    So hatte sich Leon auf dem kalten Steinboden zusammengekauert, den Kopf auf die Knie gelegt und versucht, sich Brust und Bauch notdürftig mit dem eigenen Atem zu wärmen. Der Effekt würde nicht lange vorhalten, das wusste er. Die Umgebungstemperatur mochte bei zehn bis zwölf Grad liegen, doch Leon war nackt, nass und entkräftet. Vielleicht hätte er wieder ins Wasser springen sollen, solange sein Körper ihm nochgehorchte – nun war es definitiv zu spät. Er spürte bereits, wie die Kälte seine Glieder lähmte.
    Tia und die anderen   … wo mochten sie sein? Es war möglich, dass sie nur durch eine Wand getrennt, vielleicht aber auch weit voneinander entfernt waren. Leon tippte auf die letztere Alternative, denn er hatte gerufen, geschrien und mit den Fäusten gegen die Wände gehämmert, solange er noch bei Kräften gewesen war. Tia hätte ihn niemals zurückgelassen, das wusste er. Wahrscheinlich versuchte sie schon die ganze Zeit über vergeblich, ihn zu finden. Das sprach dafür, dass die Entfernung groß und die Öffnung, aus der Leon aufgetaucht war, abseitig und schwer zu finden war.
    Was für ein idiotischer Zufall, dachte er. Nur weil ich mir das Bein angeschlagen und für eine Sekunde das Seil losgelassen habe, bin ich jetzt hier. Was wird Tia tun, wenn sie mich nicht finden kann?
    Er wusste, dass sie jede nur mögliche Anstrengung unternehmen würde, aber auch, dass ihr noch zwei weitere Schützlinge anvertraut waren. An welchem Punkt würde sie wohl aufgeben und beschließen, zumindest Justin und Dana zu retten?
    Du denkst zu negativ, rief er sich zur Ordnung. Nicht aufgeben! Glaub daran, dass alles gut wird. Denk an etwas Schönes. Denk an   …
    Leon hatte schon oft Geschichten darüber gehört, welche Gedanken und Bilder Menschen in Lebensgefahr durch den Kopf gingen. Viele berichteten von blitzhaften Bildern, Schnappschüssen ihrer bewegendsten Erlebnisse. Leon wusste genau, welches Bild
er
sehen würde, wenn die Kälte den Blutfluss zum Gehirn drosselte und sein bewusstes Denken lähmte. Er würde Tia sehen – Tia an einem Spätnachmittag im September, voriges Jahr in ihrer gemeinsamen Wohnung, an ihrem siebenundzwanzigsten Geburtstag.
     
    Er erinnerte sich genau. Tias Freundin Adele jobbte als Kosmetikern und hatte ihr einen Gutschein zum Geburtstag geschenkt: «1 × aussehen wie eine Diva». Die Idee bezog sich auf ihr allererstes Gespräch in einer Studentenkneipe.
    «Wie schminkst du dich eigentlich, wo du doch blind bist?», hatte Adele gefragt. Tia

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