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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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zu fassen und leuchtete umsich. Er steckte in einer Grube, die gut einen Meter breit war. Sein Körper war bis zum Bauch in Schlamm versunken, über dem eine fingerbreite Wasserschicht stand. Seine Füße schienen festen Boden zu berühren, jedenfalls sank er nicht weiter ein. Der Schlamm jedoch bestand nicht einfach aus nasser Erde: Er war durchsetzt von festen Bestandteilen, von Klumpen, Bröckchen und Fladen, deren Gestalt Bringshaus nicht auf den ersten Blick einordnen konnte. Erst nach einer Schrecksekunde begriff er, dass es sich um tote Körper von Tieren handelte. Unmittelbar vor seinem Bauch trieb eine ertrunkene Maus. Ein länglicher Gegenstand, der aus dem Schlamm ragte, entpuppte sich als der Hinterlauf eines Hasen, und eine dunkle, verknäulte Masse aus Fell mochte ein Wesen von der Größe einer Katze gewesen sein, vielleicht ein Marder. Was auf den ersten Blick wie bloßer Schlamm erschien, war in Wirklichkeit eine stinkende Brühe aus verwesendem Fleisch, die sich nach unten hin zu einer zähen Schicht verfestigt hatte, wie der Bodensatz einer Kloake.
    Doch das war noch nicht alles: Ein dichtes Geflecht aus feinen, wurzelartigen Fäden durchzog die zähe Masse, schwamm auf ihrer Oberfläche und hatte sich um die verschiedenen Körper geknäult wie ein pelziger Belag. Dickere Stränge, Adern nicht unähnlich, liefen von einem Kadaver zum anderen und verzweigten sich zu netzartigen Strukturen. Einige Ranken hatten sogar die Wände des Schachts erobert und waren eine Armlänge am nackten Fels hinaufgeklettert, wo sie vielarmige Büschel bildeten wie groteske Korallen.
    Bringshaus fühlte, wie ihn ein heftiger Schwindel ergriff, und einen Moment lang war er nahe daran, sich zu übergeben. Ekel und Gestank schnürten ihm die Kehle zu, während sein Herz vor Angst und Kälte flatterte. Der Gedanke an die Fäulnisgase, die er einatmete, ließ ihn würgen.
    Okay   … okay   … ich lebe, dachte er, um Fassung ringend. Alle Knochen heil   … ich muss nur hier raus, so schnell es geht.
    Er steckte die Stablampe in seinen Hemdkragen, um beide Hände frei zu haben, und packte einen Vorsprung an der Wand. Mit äußerster Kraftanstrengung gelang es ihm, seine Füße aus dem zähen Morast zu lösen und die Knie anzuziehen. Sein Körper hob sich einige Zentimeter aus der widerwärtigen Brühe, während seine Armmuskeln unter der Anspannung zitterten wie Insektenflügel.
    Es hatte keinen Zweck.
    Verzweifelt zögerte er den Moment hinaus, in dem er loslassen musste, weil er sein eigenes Gewicht nicht mehr tragen konnte – der Gedanke, in den Schlamm zurückzusinken und aufspritzendes Wasser im Gesicht zu fühlen, erfüllte ihn mit Grauen. Als es dennoch geschah, schrie er verzweifelt auf.
    Hartmut, dachte er plötzlich. Er muss irgendwo ganz in der Nähe sein – und was immer er mir antun will, nichts kann schlimmer sein, als hier unten festzustecken.
    «Hartmut!», schrie er.
    Das Echo seiner Stimme erfüllte die Höhle. Er wartete, bis es von den Wänden verschluckt wurde, lauschte, schrie ein zweites, ein drittes, ein viertes Mal. Doch es kam keine Antwort. Nicht einmal ein Geräusch von Schritten zeigte an, dass Böttcher den Raum überhaupt betreten hatte.
    Abermals ergriff Bringshaus die Lampe, leuchtete jeden Zentimeter des Schachts aus, suchte nach einer Möglichkeit zum Klettern. Der Boden der Höhle lag kaum zwei Meter über seinem Kopf – doch es hätten ebenso gut zehn Meter sein können, denn die Wände zeigten kaum Spalten noch Höcker, die ausreichenden Halt boten.
    Er versuchte es dennoch. Er krallte die Finger in jede kleine Ritze, schaffte es auch mehrmals, sich ein wenig aus demSchlamm zu erheben, doch nie mehr als eine Handbreit. Am Ende sank er entkräftet zurück und fühlte, wie der Morast von neuem bis zu seinem Nabel emporstieg.
    Ich schaffe es nicht, dachte er. Nicht ohne Hilfe. Wenn niemand kommt, werden meine Kräfte irgendwann nachlassen, meine Beine werden einknicken, und ich werde ertrinken – in einer schlammigen Kloake voller verwestem Fleisch.
    Er hob das Gesicht und blickte gerade nach oben. Weit über ihm öffnete sich der trichterförmige Schacht zum Himmel. Offenbar gehörte er zum selben Grabenbruch wie die Schlammgrube, einer Verwerfung, die die Höhle von oben nach unten spaltete. Die Verbindung zur Tagwelt war wahrscheinlich nicht größer als der Eingang zu einem Kaninchenbau. So war das Schlammloch zur Todesfalle für all die Tiere geworden, die im Laufe der Zeit

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