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Das Geflecht

Das Geflecht

Titel: Das Geflecht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Laudan
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Minuten, die mir noch geblieben wären   …
    Undeutlich hörte er, wie Tia sich aufrichtete, das Wasser abschüttelte und zu ihm herübertappte. Normalerweise bemerkte er rasch, wenn sie sich näherte, denn die Wärme, die ihren Körper umgab, wirkte wie ein elektrisches Feld. Als sie jedoch seine Schulter berührte, schreckte er zusammen: Ihre Finger waren eiskalt. Spontan ergriff er ihre Hand, so fest, als wollte er sie nie wieder loslassen. Für einen Augenblick blieben sie nebeneinandersitzen, und Leon spürte ihr Haar an seinem Arm und ihren Atem auf den angewinkelten Knien.
    «Bist du verletzt?», fragte sie.
    «Bein verstaucht», Leon winkte ab. «Nicht der Rede wert. Ich bin nur kurz vorm Erfrieren.»
    «Ich auch», keuchte Tia. «Zehnmal   …
zehnmal
durch diesen verdammten Syphon.»
    Leon, der es sich kaum vorzustellen wagte, schwieg beschämt.
    «Wir müssen uns aufwärmen», sagte Tia, «sonst gehen wir beide drauf.»
    «Aber wie? Unsere Kleider und die Decke sind nicht hier.»
    «Wir haben noch genug Kerntemperatur.» Sie wandte Leon das Gesicht zu, er spürte es am veränderten Klang ihrer Stimme. «Am besten sollten wir eine Kugel bilden, damit sie nicht entweicht. Ich weiß nur nicht, ob dein Bein das aushält. Kannst du es ausstrecken?»
    Leon tat es. Er wusste nicht genau, was sie vorhatte. Der Schreck kam verspätet, als Tia sich auf seinen Schoß setzte, das Gesicht ihm zugewandt.
    «Drück dich an mich, so fest es geht!», forderte sie ihn auf, während sie ihn mit Armen und Beinen gleichzeitig umschlang und begann, ihm kräftig über den Rücken zu streichen. «Abreiben – das bringt das Blut wieder in Gang! Na los!» Zögernd legte Leon die Arme um sie. Seine Finger waren nahezu gefühllos, dennoch ahnte er die Konturen, über die er strich, die Schulterblätter, den sanft geschwungenen Rücken, die Lendengrübchen zu beiden Seiten der Wirbelsäule.
    Dass ich das noch erlebe, dachte er. Die Frau meiner Träume sitzt nackt auf meinem Schoß   … Warum, verdammt noch mal, muss mir das ausgerechnet sechzig Meter unter Tage in einer eiskalten Höhle passieren?
    Für den Augenblick war er ehrlich dankbar, dass die Kälte seinen Körper gelähmt und alles Blut aus den peripheren Zonen in den Rumpf zurückgetrieben hatte – nicht auszudenken, was sonst vielleicht geschehen wäre.
    «Tut mir leid, dass ich dir so auf die Pelle rücken muss», sagte Tia nah an seinem Ohr. «Aber es ist unvermeidlich.»
    «Kein Problem», gelang es Leon halbwegs überzeugend zu antworten.
    Allmählich mäßigte sich die Kälte. Das Wasser auf Tias Haut trocknete. Ein schwacher Anflug ihrer gewohnten Wärme kehrte zurück und übertrug sich auf Leon. Das Muskelzittern hörte auf. Er spürte wieder etwas, zuerst an Brust und Bauch, dann in Oberarmen und Schenkeln. Zunehmend deutlich nahm er Tias Körper wahr, die Berührung ihrer Hände, das Gewicht ihres Beckens auf seinem Schoß, die kleinen, von der Kälte gehärteten Brustwarzen, die in seine Haut drückten.
    «Endlich   …» Tia seufzte. «Es wird besser. Bei dir auch?»
    Leon nickte schwach. Dass sie ihm aus nächster Nähe ins Ohr hauchte, machte die Angelegenheit nicht leichter. Er begann, sich innerlich auf jene Körperzonen zu konzentrieren, die er im Augenblick auf gar keinen Fall wiederzubeleben wünschte.
    «Puuuh   …» Tia stieß den Atem aus und rückte eben rechtzeitig von ihm ab, bevor er die Kontrolle über seine Reflexe verlor. «Das ist gerade noch mal gutgegangen.»
    In der Tat – gerade noch, dachte Leon. Erleichtert zog er die Knie an, während sie sich neben ihn setzte.
    «Wie geht’s dir?»
    «Ganz gut», antwortete er.
    «Du atmest aber immer noch sehr schnell.»
    «Ach, das ist schon in Ordnung», gab Leon zurück, darauf vertrauend, dass sie seinen schweren Atem der Kälte zuschrieb. «Aber ich spüre meine Hände und Füße wieder.»
    «Bestens. Lass uns noch ein paar Minuten sitzen bleiben, damit wir uns erholen können. Dann aber werden wir ein letztes Mal tauchen müssen. Justin und Dana warten auf der anderen Seite.»
    Leon nickte, wenig erfreut von der Aussicht. «Wie weit ist es?»
    «Wenn wir schnell sind, etwa zwölf Sekunden. Das solltest du schaffen – zumindest, sobald dein Atem sich normalisiert hat.»
    «Bist du sicher, dass du den Weg findest?»
    «Absolut sicher! Ich verfüge nämlich über den berühmten Ariadne-Faden.» Sie ergriff seine Hand und führte sie zu ihrem linken Fuß. Erstaunt erkannte Leon, dass sie

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