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Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Titel: Das gefrorene Licht. Island-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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verschluckt. Sie beugte sich vor. »Willst du mir sagen, du hast Säuglinge weinen hören, die vor Hunderten von Jahren hier ausgesetzt wurden?«
    Sóldís schaute Dóra herablassend an. »Da bin ich nicht die Einzige, falls du das glaubst. Die meisten hier haben das Weinen schon gehört. In der letzten Zeit ist es sogar mehr geworden. Als ich angefangen hab, hier zu arbeiten, war’s nie zu hören.«
    »Und woran liegt das?«
    »Weiß nicht. Oma meint, es würde kommen und gehen. Sie kann sich noch erinnern, dass irgendwann in den 40 er Jahren ein herzzerreißendes Weinen zu hören gewesen sein soll. Ein Bauer kam her, um danach zu suchen, weil er dachte, es sei von einem echten Kind. Er hat direkt neben sich ein leises Weinen gehört, aber kein Kind gefunden. Da ist er nach Hause gerannt und nie wieder in die Nähe dieses Hofes gekommen. Oma hat erzählt, das war kurz vor Kriegsende. Vielleicht haben die Wiedergänger das gespürt und so ihre Freude darüber ausgedrückt. Oder ihren Zorn. Vielleicht ist jetzt auch was Übles im Anmarsch. Tja, oder was Gutes.«
    Sich nach allen Seiten absichern, würde Dóra das nennen. Natürlich geschahen ständig Dinge, und es war immer irgendwas im Anmarsch. Unabhängig davon, ob es gute oder schlechte Neuigkeiten gab, konnte man sich immer hübsch auf sie berufen, wenn die ausgesetzten Kinder anfingen zu weinen. Kein Wunder, dass sich der Spuk wie ein Lauffeuer unter den Mitarbeitern herumgesprochen hatte, wenn man ihn mit allem Möglichen begründen konnte. »Hast du schon mal einen Wiedergänger gesehen?«, fragte Dóra. »Oder sonst jemand im Hotel?«
    »Oh Gott, nein«, entgegnete Sóldís. »Zum Glück nicht. Die sind bestimmt total gruselig. Wahrscheinlich würde ich ... du weißt schon ... den Verstand verlieren.«
    »Diese Geschichte, dass in dem Lavafeld Kinder ausgesetzt wurden – kennt die hier jeder?«
    »Ja, absolut«, antwortete Sóldís. »Es heißt, hier würde kein Kind überleben. Das wissen alle.« Sie sah, dass es Dóra schwerfiel, das zu verdauen. »Geh auf den Friedhof und schau dir die Grabsteine an, dann siehst du, dass das kein Quatsch ist.«
    Dóra musste an das Foto des kleinen toten Mädchens denken, Edda Grímsdóttir. »Angenommen der Spuk kommt von den ausgesetzten Kindern«, sagte sie. »Wie erklärst du dir dann den Geist, den Jónas und andere gesehen haben? Das war kein Kleinkind.«
    »Dieser Geist ist kein ausgesetztes Kind«, entgegnete Sóldís. »Es könnte die Mutter eines Kindes sein, die dazu verurteilt ist, bis in alle Ewigkeit nach ihm zu suchen. Oder es ist der Geist des Strandweibs.«
    »Der Geist des Strandweibs?«, wiederholte Dóra. Sie begriff überhaupt nichts mehr. »Es gibt also noch andere Geister hier in der Gegend?«
    »Ja«, antwortete Sóldís, »jede Menge. Die ausgesetzten Kinder und der Wiedergänger des Strandweibs sind allerdings auf diesem Grundstück die Einzigen, von denen ich weiß. Diese Geschichte hat auch hier stattgefunden. Bevor die beiden Höfe gebaut wurden, war hier nämlich ein Fischerdorf.«
    »Ein Fischerdorf?«
    »Ja, solche Fischerbaracken. Sie sind zur See gefahren und so«, antwortete Sóldís. »Jede Menge Arbeiter, weißt du. Fischer eben.«
    »Und was hat das mit dem Fluch zu tun?«, fragte Dóra argwöhnisch.
    »Ziemlich viel«, antwortete das Mädchen abrupt. »Oma hat mir erzählt, die Fischer hätten ein Strandweib umgebracht und ihr Fleisch als Köder verwendet.«
    »Als Köder?«, fragte Dóra und verzog das Gesicht.
    »Ja, als Köder«, entgegnete das Mädchen, zufrieden über Dóras Reaktion. »Sie haben richtig gute Beute mir ihr gemacht und wollten deshalb nicht direkt zurück an Land, sondern sind noch bis in die Dämmerung hineingefahren. Als es dunkel war, ist das Boot gekentert. Nur ein Mann hat überlebt, und der war gegen die ganze Sache. Er hat erzählt, das Boot sei von unten umgeschmissen worden, weißt du. Etwas im Meer hat es zum Kentern gebracht, und der Mann hat behauptet, es sei der Wiedergänger der Frau gewesen.«
    »Aha«, sagte Dóra verwundert, »und das soll der Geist sein? Die Frau, die als Köder ...«
    Sóldís schüttelte den Kopf. »Könnte auch der Wiedergänger von einem der Fischer sein, die sie getötet hat. Ihre Leichen sind an Land gespült worden und spuken auch hier.« Verschwörerisch beugte sie sich zu Dóra. »Und weißt du was?«
    »Nee, was?«
    »Sie sind dort angespült worden, wo die Polizei alles abgesucht hat. Wo die Leiche gefunden wurde.«

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