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Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Das gefrorene Licht. Island-Krimi

Titel: Das gefrorene Licht. Island-Krimi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yrsa Sigurðardóttir
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zusammengefaltete Hakenkreuzfahne. Die weiße Fläche um das Kreuz herum war leicht angegilbt, und der Stoff fühlte sich rau an. Dóra runzelte die Stirn, als sie die Fahne vorsichtig herausholte und beiseite legte. Darunter kam ein Stapel Zeitschriften zum Vorschein; die oberste war noch vergilbter als die Fahne. Das Blatt hieß
Ísland
und trug in der Mitte unter dem Titel ein Nazizeichen. Dies hatte Jónas bei seinem mysteriösen Bericht über Geister und die dunkle Vergangenheit des Hauses mit keinem Wort erwähnt. Dóra nahm die Zeitschrift heraus und sah, dass die darunterliegenden von derselben Sorte waren. Herausgeber war eine nationalistische Gruppierung. Dóra schüttelte den Kopf. Ihr war bekannt, dass es vor dem Krieg eine sehr kleine Nazibewegung in Island gegeben hatte, aber sie wusste nichts über deren Aktivitäten. Anscheinend hatte sie Schriften herausgegeben, aber die Hefte waren dünn und den Titelzeilen nach zu urteilen schlecht geschrieben. Beim Durchsehen des Stapels fand sie auch ein paar Ausgaben des Studentenblatts
Mjölnir
, dessen Herausgeber laut Titelseite der Verein Nationalistischer Studenten war. Dóra hob den Zeitschriftenstapel aus dem Karton und stieß darunter auf ein gefaltetes Hemd, eine Oberarmbinde mit einem Hakenkreuz und einen Gürtel mit einem Lederriemen, der offenbar über die Schulter geführt werden musste. Was es alles gab. Jetzt konnte sie den Boden der Kiste sehen, und ihr Blick fiel auf einen Messinggegenstand. Sie holte ihn heraus – ein weiteres Hakenkreuz, dessen unterer Teil aus einer Art Hülse bestand. Dóra war nicht klar, welchem Zweck sie diente. Es gab noch ein paar Papierschnipsel mit Ankündigungen von Tanzveranstaltungen, Ausflügen und Nationalisten-Treffen sowie Dinge, die nichts mit Politik zu tun hatten: eine alte Brieftasche, Schuhe und Fotografien von Leuten, die allerdings keine Hakenkreuze trugen. Auf keinem der Fotos war ein Kind zu sehen. Die Motive ähnelten sich: Leute im besten Alter in Festtagskleidung, meist beim Picknick auf einer Decke sitzend oder vor einer Hauswand aufgereiht. Dóra konnte nicht erkennen, ob die Hauswand, die auf mehr als einem Foto zu sehen war, zu dem alten Hof gehörte, in dem sie sich gerade befand. Der Kleidung nach zu urteilen, stammten die Bilder aus der Kriegs- und Nachkriegszeit.
    Dóra versuchte, die Gegenstände in derselben Reihenfolge wieder in die Kiste zurückzulegen. Sie war zwar gewiss schon sehr lange nicht mehr geöffnet worden, und niemand würde sagen können, wie die Gegenstände angeordnet gewesen waren, aber Dóra fand es angemessen, alles so zu hinterlassen, wie sie es vorgefunden hatte. In der nächsten Kiste war nicht viel Interessantes – ein paar alte, gehäkelte Tischdecken und eine altmodische Vase mit Blumenmuster und Goldrand –, in der dritten hingegen lag ein altes Fotoalbum. Dóras Großmutter hatte auch ein solches Album besessen, und vielleicht wurde Dóra deshalb ein bisschen wehmütig und dachte daran, wie kurz und vergänglich das Leben im Grunde war. Es wäre gewiss schwer, jemanden zu finden, der die Leute auf den Fotos kannte, und nicht mehr lange, dann wäre es schier unmöglich. Dóra setzte sich auf eine Kiste, um die Bilder in aller Ruhe anschauen zu können.
    Sie hob den dicken Deckel des Albums. Auf der ersten Seite unter einer Art Deckblatt aus Durchschlagpapier kamen Fotos zum Vorschein, aufgenommen beim alten Hof. Das Haus sah auf den Bildern fast neu aus und hatte sich kaum verändert. Auf einem geschnitzten Holzschild über dem Eingang stand »Kirkjustétt«. Dóra schob die Ecke des Fotos vorsichtig aus der kleinen Lasche. Auf der Rückseite war ein Stempel, der besagte, dass es im Jahr 1919 aufgenommen oder entwickelt worden war. In einer eleganten Handschrift, vermutlich von einer Frau, stand geschrieben: Bjarni þórólfsson und Aðalheiður Jónsdóttir. Dóra betrachtete das Bild genauer und sah, dass der Fotograf der Sonne den Rücken zugewandt haben musste, denn das Paar versuchte, die Gesichter nicht zu verziehen, obwohl es geblendet wurde. Beide sahen sehr gut aus: der Mann großgewachsen mit dichten Locken, die junge Frau schlank in einem wadenlangen Rock und Sonntagsschuhen mit leichtem Absatz sowie einem altmodischen Hut, der ihr Gesicht halb verdeckte. Unter dem Hut blitzte blondes Haar hervor. Er trug eine weite, helle Hose mit einer auffälligen Bügelfalte, Hemd und Hosenträger. Kerzengerade standen sie nebeneinander vor der Hauswand, die

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