Das gefrorene Licht. Island-Krimi
Vaginen.« Dann hatte sie gelächelt und hinzugefügt: »Die Einzige, die gerade einen leeren Karton hatte, war unsere Sexualratgeberin. Entschuldige bitte.«
Es hatte Dóra fast den ganzen Morgen gekostet, die restlichen Sachen aus dem Keller durchzusehen und das, was ihr bedeutsam erschien, mitzunehmen. Sie interessierte sich ausschließlich für alte Dokumente, Briefe und Fotografien und ließ alles andere zurück: Tassen, Uhren, Kerzenleuchter und ähnlichen Nippes. Dóra legte die Papiere, die nicht von Belang waren, wieder zurück in die dunklen Kisten, nahm aber sämtliche Fotos mit, egal wer darauf abgebildet war, denn man konnte nie wissen, was sich bei besserem Licht herausstellen würde. Es waren nicht viele. Eines weckte ihre besondere Aufmerksamkeit – ein Bild in einem hübschen, altmodischen Rahmen von einem jungen Mädchen, mit Sicherheit die Tochter von dem alten Hof, Guðný Bjarnadóttir. Das Mädchen saß mit angezogenen Beinen auf einem Grashügel und lächelte, jung und hübsch, in die Kamera. Sie trug eine weiße, dekolletierte Bluse, die mit einer langen Schleife am Ausschnitt zusammengebunden war. Die Bluse unterstrich auf unerklärliche Weise, dass es sich um ein junges Mädchen handelte, nicht um eine junge Frau. Dóra war sich sicher, dass sie selbst in dieser Bluse einen ganz anderen Eindruck erweckt hätte. Sie stellte das Bild auf den Nachttisch neben ihrem Bett. Es dauerte lange, bis es richtig stehen blieb, denn der Ständer auf der Rückseite des Rahmens hatte im Keller offenbar ziemlich gelitten. Sie betrachtete das Mädchen lange und hoffte zutiefst, dass das, was Sóldís ihr über den Inzest auf dem Hof erzählt hatte, eine Erfindung wäre. Falls nicht, war Guðný aller Wahrscheinlichkeit nach das Opfer.
Dóras Magen knurrte. Sie schaute auf die Uhr; es war kurz vor eins. Dóra rief an der Rezeption an und erfuhr, dass die Küche bis halb zwei geöffnet war. Sie musste sich beeilen. Rasch wusch sie sich die Hände und kämmte ihr struppiges Haar. Der Aufenthalt im Keller hatte nicht gerade zu ihrer Attraktivität beigetragen, aber sie ließ sich durch die staubigen Klamotten nicht davon abhalten, in den Speisesaal zu gehen. Am Abend könnte sie sich immer noch schick machen und ihren jetzigen Aufzug ausgleichen.
Als Dóra den Speisesaal betrat, war nur ein einziger Gast anwesend. Es war der ältere Herr, den sie beim Frühstück für einen Wirtschaftsprüfer oder Rechtsanwalt gehalten hatte. Er schaute sie nicht an und machte keinerlei Anstalten, sie zu grüßen, blickte nur betrübt aus dem Fenster und schien nicht zu bemerken, dass sich die Zahl der Gäste im Speisesaal mit Dóras Eintreffen verdoppelt hatte. Woher kannte sie den Mann bloß? Dóra wählte einen Tisch in einigem Abstand zu ihm. Kaum hatte sie Platz genommen, als auch schon ein junger Mann mit Kellnerlächeln herbeieilte und ihr die Speisekarte reichte. Dóra bedankte sich, bestellte ein Glas Mineralwasser, überflog die Mittagskarte und entschied sich für Omelett mit grünem Salat, der Löwenzahn und Sauerampfer enthalten sollte. Dóra wählte das Gericht vor allem aus Neugier. Als sie gerade die Karte zugeschlagen hatte, erschien der Kellner mit dem Getränk und lobte ihre Speisenauswahl. Dóra vermutete, er hätte es auch getan, wenn sie rohes Schweinefleisch bestellt hätte, falls so etwas im Angebot wäre. Er wirkte nicht besonders vertrauenswürdig. »Gibt’s was Neues über den Leichenfund?«, fragte sie, während er ihr Wasser einschenkte. Der Kellner zuckte zusammen und kleckerte ein wenig Wasser auf die Tischdecke.
»Oh, entschuldige. Wie ungeschickt von mir«, sagte er und holte eine Serviette vom Nachbartisch.
»Ist schon in Ordnung«, entgegnete Dóra lächelnd. »Ist ja nur Wasser.« Sie wartete, bis er den Tisch abgewischt hatte. »Und? Gibt’s was Neues?«
Der Kellner knetete die nasse Serviette in seinen Händen und zögerte. »Gott, das ist alles so verwirrend. Ich weiß eigentlich nicht, was ich sagen darf und was nicht. Der Chef will sich nachher mit uns treffen und eine Sprachregelung festlegen, was wir den Gästen sagen sollen. Wir möchten keine Gerüchte verbreiten, die unnötige Aufregung verursachen könnten. Die Leute kommen schließlich her, um sich zu erholen.«
»Ich bin kein normaler Gast. Mir kannst du ruhig alles erzählen, ich arbeite für Jónas. Ich bin seine Rechtsanwältin und frage nicht aus persönlicher Neugier.«
Der Kellner war argwöhnisch. »Oh,
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