Das Gegenteil von Schokolade - Roman
keine Gestalt.
Für mich besteht die Nacht nur aus hunderten fremden Gesichtern. Keine Ausgeh-Clique, keine alten Bekannten, keine fremde Schöne, die schon seit tausend Tänzen heimlich für mich schwärmt. Auch keine Feindinnen, das hat was für sich.
All das summiert ergibt: Ich gehöre nicht dazu. Ich bin hier fremd. Und wenn ich hier stehe und warte, auf eine von ihnen, dann könnte das unter Umständen in eine kleine bis mittelschwere Katastrophe führen.
Ich sehe unauffällig zur Uhr. Es ist bereits sieben Minuten nach halb. Mein Magen grummelt vernehmlich. Sollte sich unser Spiel von neulich wiederholen?
Die vorbeigehenden Frauen näher ins Visier zu nehmen, wage ich nicht. Ich kenn das doch: Ich brauche ja nur eine ein bisschen näher anzugucken, und schon bietet sie mir an, von der Theke ein Getränk für mich mitzubringen. Ich glaube, ich bin das prädestinierte Ansprechopfer für alle Lesben, die sich für die Nacht ein aufregendes Erlebnis versprechen. Wenn die wüssten, wie es in mir wirklich aussieht, würden sie sich das Geld für das Bier sparen.
Also nehme ich möglichst wenig Blickkontakt auf, sondern baue darauf, dass ich auffällig genug bin, um erkannt zu werden – von einer, die mich erkennen will.
Aber dann sehe ich mich plötzlich mit Emmas Augen.
Emma, die vielleicht ebenso nervös wie ich irgendwo hier steht. Und die auf den Durchgang zum Café zusteuert, wo eine Frau steht, auf die die Beschreibung der Frauke passt.
Doch die Frau steht nicht allein dort.
Nein, sie ist in Begleitung einer attraktiven Vierzigerin, die kokett an der Wand lehnt und plaudert.
Oh, nein! Natürlich würde ich an Emmas Stelle die bewusste Frau nicht ansprechen. An Emmas Stelle fände ich es unverschämt von Frauke, nicht allein zu warten.
Welche Internet-Bekannte schiebt sich schon gern in eine angeregte Unterhaltung? Und doch wohl erst recht nicht, wenn es eine peinliche Vorgeschichte mit Stehen- lassen-bei-der-ersten-Verabredung gibt. Von der die daneben stehende Begleitung ja mutmaßlich vielleicht auch weiß.
Ich knabbere nervös an meiner Unterlippe.
Angelas Meinung zu Emmas Verhalten neulich habe ich noch allzu gut in Erinnerung. Es wäre mir unangenehm, ihr zu sagen, warum ich hier bin. Und noch unangenehmer wäre es mir, sie zu bitten, mich wieder allein zu lassen. Erst recht, nachdem sie so glücklich schien, eine Gleichgesinnte getroffen zu haben, die sich in diesem Junglesben-Gewimmel auch ein wenig fremd fühlt.
Hilfe, was soll ich bloß machen?
Aber an eine wie auch immer geartete Hilfe ist jetzt erst einmal nicht zu denken. Im Gegenteil. Denn da taucht plötzlich auch noch Michelins Gesicht in der Menge auf. Ihre Augen werden tellergroß, als sie mich erkennt. Als sie näher kommt, sehe ich, dass sie zwei Gläser balanciert. Eins davon drückt sie Angela in die Hand, nicht ohne ihr einen aussagekräftigen Blick zuzuwerfen, den ich nicht anders deuten kann als: ›Hab ich dir doch gesagt!‹
»Frauke, was tust du denn hier?«, ruft sie dann gegen die Musik an und klingt wie ein verspätetes Echo ihrer Freundin.
Ich gebe ihr die gleiche Antwort wie Angela. Auch, weil ich mich gerade außer Stande sehe, ihr die Wahrheit zu erzählen. Denn wenn ich eines nicht ertragen könnte, dann wäre es die gespannte Aufmerksamkeit, die mir dann zuteil würde.
Also stehe ich erstarrt wie Lots Frau mit eingefrorenem Lächeln bei den beiden und wünsche mich ans andere Ende der Erde. Vielleicht in Begleitung.
Nachdem die zehnte Frau sich, eine Entschuldigung murmelnd, an Michelins Po vorbeigedrückt hat, meint die: »Wir stehen hier ein bisschen ungünstig, so im Durchgang. Wollen wir uns nicht rüber an die Treppe stellen? Da finden uns die anderen auch sofort, wenn sie kommen. Ellen und Jackie wollten auch vorbeischauen. Warum die wohl noch nicht da sind?«
Sie sieht im gleichen Augenblick auf die Uhr, wie ich es auch tue. Es sind schon vierzehn Minuten.
Vierzehn Minuten, an denen sie womöglich einen Parkplatz sucht?
In denen sie unweit von mir steht und sich fragt, wer denn gleich noch alles bei mir auflaufen wird, um sie fern zu halten?
In denen sie vielleicht wieder zu Hause sitzt und sich nicht traut?
Es ist zum Mäusemelken.
»Geht ihr doch schon mal vor«, schlage ich Michelin und Angela betont munter vor. »Mir ist es da ein bisschen zu voll. Ich muss mich erst mal akklimatisieren. Komme dann gleich nach.«
Michelins Augen verengen sich für ein paar Sekunden zu kleinen Schlitzen,
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