Das Gegenteil von Schokolade - Roman
neuen und aufregenden Bekanntschaft Emma daherkomme und mich in der Szene herumtreibe wie ein alter Hase, ehm, eine alte Häsin. Nein, ich kann niemandem zumuten, sich anzuhören, dass ich mitten auf dem Schwof undefinierbare Gefühle entwickle, nur weil ich einer Frau heimlich beim Tanzen zusehe.
Ich meine, es handelt sich hier schließlich um eine Frau, die ich vor ein paar Wochen noch nie gesehen hatte. Eine Frau, mit der mich eine Impfaktion beim Tierarzt, ein Mittagessen beim Griechen und ein Nachmittag auf dem Hundeplatz verbinden. Eine Frau, die mich mit ihrem rasanten Tempo ständig außer Atem bringt. Eine Frau, die mit ihrer mir fremden Art so gar nicht in mein Leben passt, an keine Stelle. Und letztendlich handelt es sich hierbei um … eine Frau.
Tja. So ist das.
Ein Abend vergeht. Wird Nacht.
Könnte irgendein Abend, irgendeine Nacht sein. Glaube ich aber nicht. Irgendwas, ja, irgendwas passiert hier. Mit mir.
Ich kann es fühlen. Beim Tanzen. Beim Gehen. Beim Schauen.
Wenn ein Werwolf bei Vollmond spürt, dass er sich verwandelt, dann fühlt es sich wahrscheinlich so an. Etwas bricht raus und lässt von dem Alten nur zerfetzte Haut zurück.
Werwölfe aber, das weiß ja wohl jedes Kind, verwandeln sich am nächsten Morgen wieder zurück in das, was sie einmal waren, bevor sie zu einem Wesen wurden, das stark, mächtig und wirklich durch nichts aufzuhalten ist.
Es ist ausgerechnet Frederikes Freundin Karolin, die schließlich mein neu gewachsenes Fell plötzlich zurückweichen lässt.
Der Zeitpunkt, um etwas Aufwühlendes zu mir zu sagen, ist günstig: Michelin ist schon seit einer Weile verschollen, und somit bin ich meiner engsten Vertrauten beraubt. Und vor zehn Minuten stürzte sich plötzlich eine prallbrüstige Frau in glitzerndem Oberteil kreischend auf Antonie, die diese Frau ebenfalls quiekend umarmte und sich dann bei mir mit einem bedauernden Lächeln entschuldigte: »Eine gute alte Bekannte. Wir gehen nur kurz was trinken.«
Kurz was trinken. Das kennt man ja.
Nach fünfundzwanzig Minuten steh ich immer noch hier neben Angela, die sich angeregt zur anderen Seite hin mit Frederike unterhält. Weil deren Freundin Karolin, mit stechend blauen Augen und einem geraden Blick daraus, von dem Gespräch auch nicht viel mitbekommt, stellt sie sich solidarisch auf meine Seite unserer kleinen Gruppe.
Karolin und ich kennen uns eigentlich gar nicht wirklich. Wir haben mal gemeinsam an einem ziemlich ereignisreichen Abendessen bei Michelin teilgenommen und uns danach ein paarmal flüchtig gesehen. Da wir jedoch wesentliche Dinge wie Beruf oder Familienstand voneinander wissen, gibt es nicht wirklich etwas Bedeutungsvolles, über das wir jetzt sprechen könnten. So lassen wir hin und wieder ein paar Worte fallen, über die Musikstücke, die die DJ aussucht, oder ein besonders auffälliges Styling einer vor uns herumwirbelnden Frau.
Da wendet sich Karolin plötzlich lebhaft an mich und fragt: »Und diese Frau, mit der du hier bist, das ist also deine Internet-Bekanntschaft?«
Ich stutze. Damit kann sie nur Antonie meinen. Michelin hat also gequatscht, die blöde Kuh. Und jetzt glotzen alle mich an und mutmaßen, wer denn nun die Unbekannte sein könnte, die mich aus meinem Dornröschenschlaf geweckt hat.
»Jetzt war ich für einen Moment ziemlich platt, dass du was davon weißt«, erkläre ich Karolin meinen karierten Gesichtsausdruck.
Sie lacht. Aber nicht nur amüsiert. Die Musik ist laut, aber nicht laut genug, um den leisen Ton von Bitterkeit zu übertönen, der zwischen den hellen Klängen mitschwingt.
»Ach, daran wirst du dich gewöhnen. Das ist nun mal so: Erzählst du es einer, wissen es bald alle. Geheimnisse sind nur gut aufgehoben, wenn du sie für dich behältst. Ich fand das am Anfang auch ganz schrecklich. Aber irgendwann … ich weiß nicht, wie … bin ich selbst ein Teil davon geworden. Aber das wirst du schon noch selbst erfahren, wenn du erst mal dazugehörst.«
Ich glaube, der Bass hat mein Gehör geschädigt. »Wenn ich dazugehöre?«, wiederhole ich dumpf. Hat sie das tatsächlich gesagt? »Wo dazugehöre?«
Karolin grinst: »Zur Szene natürlich.«
Ach so. Natürlich.
Ich nicke langsam in Ermangelung von Worten und wende den Kopf wieder fort.
Direkt neben uns steht ein Pärchen, das schon den ganzen Abend eng umschlungen wie siamesische Zwillinge am Treppenaufgang lehnt. Als ich mich von Karolin fortdrehe, fällt mein Blick genau auf ihre Münder, die sich
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