Das geheime Bild
infrage kam. Der Staat erachtete seine Eltern als politisch unzuverlässig.
»1968 dachten wir, wir könnten die Einschränkungen hinter uns lassen.« Seine Augen bekamen einen versonnenen Ausdruck. »Wir dachten, alles würde anders, wir könnten tun, wonach uns der Sinn stand, sein, wer wir wollten.« Es kam so selten vor, ihn wie jetzt dazu zu bewegen, über die Vergangenheit zu sprechen. Ich beugte mich vor.
»Ich hole nur rasch den Nachtisch.« Er stand auf. Wahrscheinlich hatte er schon mehr gesagt, als er wollte.
»Ich würde gern noch mehr über deine Kindheit erfahren«, sagte ich zu seinem sich entfernenden Rücken. »Das ist so interessant.« Es kam keine Antwort.
Im Flur vor der Wohnung wurde eine Tür geöffnet und wieder geschlossen. Jemand lief über den Treppenabsatz. Ich glaubte, jemanden etwas sagen zu hören, und fragte mich, wer das wohl zu später Stunde sein mochte. Dad kam zurück ins Esszimmer mit zwei Schalen Apfelmus in den Händen, das er offenbar aufgetaut hatte, darauf lag Vanilleeiscreme. Bestimmt die Äpfel vom letzten Jahr. In diesem Jahr hatten wir uns nicht die Mühe gemacht, die Bramleys aufzusammeln. Das war eine der Lieblingsaufgaben meiner Mutter gewesen. Dieses Jahr hatten wir sie den Wespen überlassen. Die Eiscreme auf den Äpfeln war mit Eiskristallen gespickt: Offenbar hatte Dad den Becher schon lange Zeit im Gefrierschrank, wohl seit der Woche von Mums Tod. Während jener letzten paar Tage im Leben meiner Mutter hatten wir gutes Wetter gehabt. Sie hatte das Abendessen für die beiden draußen auf der Terrasse serviert. Selbst da plagten sie bereits leichte Kopfschmerzen, die sie aber mit ein paar Paracetamol in den Griff bekam. Ein- oder zweimal war ihr schwindelig gewesen, aber das hatten wir auf das warme Wetter geschoben. Vermutlich hatte sie die Eiscreme für die Himbeeren gekauft, die sie in ihrem Garten gepflückt hatte.
»Lass mich das machen.« Ich nahm meinem Vater die Schälchen ab und stellte sie auf die Platzdeckchen vor uns. »Erzähl mir von 1968. In diesem Jahr wirst du sicherlich geglaubt haben, dass dein Leben einen anderen Verlauf nehmen wird.«
»Wir glaubten, wir könnten so werden wie die jungen Menschen anderswo auf der Welt.« Sein Blick verschleierte sich. Ich wusste, mehr würde er darüber nicht erzählen. Doch wir hatten noch ein anderes Thema, worüber wir reden mussten. Und ich musste warten, bis er es anschnitt.
»Diese Puppe«, sagte mein Vater endlich. »Ich glaube, ich habe mir das alles zu sehr zu Herzen genommen, war besessen davon.«
Ich wartete. Beobachtete seinen inneren Kampf.
»Der Brief klang so überzeugend.«
»Hast du ihn denn noch?«
Er schüttelte den Kopf.
»Schade. Ich hätte vielleicht die Handschrift erkannt.«
»Daran hätte ich denken sollen.« Er machte eine Geste mit der Hand, die seine Zerknirschung zum Ausdruck brachte. »Es kam eins zum anderen, den Brief bekam ich direkt nach der E-Mail …«
»Nun, wenn man jemanden übers Ohr hauen möchte, dann muss man überzeugend wirken, nicht wahr?«
»Da hast du wohl recht.«
Noch immer wartete ich und zerdrückte die Eiskristalle meiner Eiscreme mit meinem Löffel. »Es tut mir leid, Merry«, sagte er schließlich. »Ich hätte dir vertrauen sollen.«
Ich nickte.
»Vermutlich funktioniere ich nicht richtig. Noch nicht. Obwohl es schon Monate her ist.«
Seit meine Mutter gestorben war. »Es ist noch nicht lange her, Dad.«
»Vielleicht nicht.« Er legte seinen Löffel ab, die Eiscreme war unberührt. »Was meinst du, was sollen wir unternehmen?«
»Verkauf die Puppe bei eBay und spende das Geld einer wohltätigen Einrichtung. Oder kauf davon den Alkohol für die Weihnachtsfeier der Mitarbeiter.«
»Man kann solche Sachen im Internet verkaufen?« Es schien ihn zu belustigen. Manchmal kam die skeptische, die belustigte mitteleuropäische Persönlichkeit an die Oberfläche.
»Wo ist das verdammte Ding denn jetzt?« Hoffentlich hatte er sie weggepackt. Ich würde viel lieber auf unser vorheriges Thema, die Tschechoslowakei von 1968, zurückkommen. Zu seiner Künstlerkarriere, die er mit so großen Erwartungen begonnen hatte.
»Immer noch auf meinem Schreibtisch.«
Ich nahm mir vor, sie wieder in ihren Karton zu legen und in einem Schrank zu verstecken, bis ich Zeit fand, sie zu verkaufen. Was ich in der Woche erledigen würde, wenn wir die Hälfte des Trimesters geschafft hatten.
»Meredith …« Er schob sein Schälchen von sich weg. »Ich möchte dir
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