Das geheime Bild
aus.
»Sie scheinen alles richtig gemacht zu haben, gut gemacht«, sagte der Mann am Telefon mir. Ich fühlte mich wie eine Erstklässlerin, die den Siegtreffer erzielt hatte. »Sehen Sie zu, dass sie ruhig liegen bleibt, und halten Sie sie warm.«
Ich gab den Hörer zurück und legte meine Hand auf Olivias Arm. »Bringen Sie mir eine Decke oder einen Mantel«, forderte ich Emily auf. »Hier auf dem Marmor verkühlt sie sich.« Olivia schien zu blinzeln. »Kannst du mich hören, Olivia?« Ich glaubte, ein Flattern ihrer Lider zu sehen. »Hilfe ist unterwegs.« Sie bewegte leicht eine Hand. »Ganz vorsichtig.« Sie bewegte ihren Kopf von Seite zu Seite und erbrach auf den Marmorboden. Aus Sorge, sie könnte ersticken, brachte ich sie in die Seitenlage. »Ich werde mit dir sprechen.«
Sie hustete und stieß einen leisen Seufzer aus.
Es war mein Vater, nicht Emily, der mir den Mantel brachte. Ich erkannte ihn als seinen eigenen dicken schwarzen Crombie Coat und deckte das Mädchen damit zu. Normalerweise trug Dad den Mantel bei Rugbyspielen an der Seitenlinie – er besaß ihn schon seit Jahrzehnten. Auch eins seiner typisch englischen Kleidungsstücke. Nach der Wärme im vertäfelten Esszimmer oben bekam ich auf dem Marmorboden Gänsehaut. Als Kind war ich einmal über meine Schnürsenkel gestolpert und an fast genau derselben Stelle flach aufs Gesicht gefallen. Ich erinnerte mich gut an den kalten, brennenden Aufprall meines Gesichts auf den Fliesen und schauderte. Wie muss es sich anfühlen, aus dieser Höhe zu fallen?
»Ist sie die ganze Treppe hinuntergestürzt?«, fragte mein Vater. »Was ist passiert, Emily?« Seine Stimme bebte. Er legte eine Hand auf die von Olivia. »Sie ist so kalt.« Seine Stimme hatte eine leichte gutturale zentraleuropäische Färbung angenommen.
Emily zuckte die Achseln. »Ich kam gerade durch die Eingangshalle, als ich sie fallen hörte.«
Warum?, fragte ich mich. Was hatte Emily im Haupthaus zu suchen? Man hatte ihr ein Zimmer im Gavin House gegeben. Vielleicht hatte sie etwas in einem der Klassenzimmer vergessen. Und Olivia hätte schon gar nicht hier sein dürfen: Außerhalb der Schulstunden war den Schülern der Aufenthalt hier verboten.
»Ich hatte ein paar Bücher oben im Lehrerzimmer vergessen«, berichtete Emily.
Olivia stöhnte, und ihre Muskeln verspannten sich unter dem Mantel. Ich hatte nicht bemerkt, dass ich noch immer meine Arme auf ihr liegen hatte.
»Bleib ganz ruhig liegen«, sagte ich ihr. »Warte auf die Sanitäter, die dich untersuchen werden. Nicht einschlafen, Olivia.«
»Arm«, sagte sie. »Der Arm tut weh. Sonst nichts. Ich möchte mich aufsetzen …« Sie strampelte ein wenig unter meinem Arm. Das war gut. Sie war wieder klarer bei Bewusstsein. Ich richtete mich auf.
»Ganz langsam. Sag mir, ob sonst noch etwas wehtut, vor allem dein Kopf oder Nacken.« Ich half ihr, sich aufzusetzen. Sie zitterte, also legte ich ihr den Mantel um die Schult ern, wobei ich darauf achtete, ihren herabbaumelnden rech ten Arm nicht zu berühren. »Leg deinen Kopf zwischen deine Beine, wenn dir schwindelig wird.« Ich bemerkte einen Bluterguss an ihrer rechten Schläfe, die bereits geschwollen war, und eine Schnittwunde auf dem Rücken ihres linken Handgelenks. Offenbar hatte sie sich beim Stur z am Geländer verletzt.
»Könnten wir eine Eispackung bekommen?«, rief ich meinem Vater zu.
»Ich gehe eine holen und bringe Cathy gleich mit«, sagte er. Selbst jetzt noch verspannte ich mich, als ich Cathys Namen hörte. Ich ermahnte mich zur Vernunft, denn Cathy würde mich sicherlich keiner weiteren Possen beschuldigen, solange eine Schülerin schwer verletzt neben mir auf dem kalten Marmorboden lag.
»Der Krankenwagen wird gleich hier sein«, ließ ich Olivia wissen. Er kam aus der nächsten Stadt und würde weniger als zehn Minuten für den Weg hierher benötigen.
»Ich brauche keinen Krankenwagen.«
»Du warst bewusstlos. Du musst genau untersucht und dieses Handgelenk muss behandelt werden.«
»Ihr Handgelenk?« Jetzt hockte sich Emily neben uns und redete auf Olivia in so sanftem Ton ein, wie ich ihn noch nie bei ihr gehört hatte. Sie schien sich viel größere Sorgen um den Arm als um eine mögliche Kopfverletzung zu machen.
»Krankenhäuser machen mir Angst.« Olivia weinte jetzt. Eingemummelt in den Mantel meines Vaters wirkte sie viel jünger, als sie war, ein blasses heimatloses Kind, die Augen groß und voller Angst. Einen kurzen Moment lang erinnerte
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