Das geheime Bild
unschätzbar gewesen.
Emily drehte ihr Handgelenk. »Ich denke, es war ein Fehler von mir, nach Letchford zu kommen.«
Ich musste daran denken, wie hilflos sie auf die Bitte reagiert hatte, die Pylone für die Sportstunde herzurichten. »Als Gappy ist man eben oft Mädchen für alles. Aber Universitäten und Colleges wissen diese Erfahrung wirklich zu schätzen, man …«
»Für mich wäre eine andere Schule besser gewesen.«
»Die Jugendlichen hier treten manchmal ein wenig verzogen auf und stellen Ansprüche. Wenn sie Ihnen das Leben schwer gemacht haben, sollten wir das aus der Welt schaffen.« Ihr Blick schien sich zu trüben. »Emily?« Komisch. Die merkwürdige Beziehung, die sie zu Olivia aufgebaut hatte, dieses Beschützen des jüngeren Mädchens, hatte mich misstrauisch gemacht, noch bevor ich wusste, wer Olivia war. Aber jetzt empfand ich Mitleid für Emily. Sie war kein gewöhnliches quirliges Gappy, dieses Mädchen hatte Abgründe, die wir vermutlich unterschätzt hatten.
»Bitte seien Sie nicht nett zu mir, bitte versuchen Sie nicht, mir meinen Entschluss auszureden.« Sie rieb sich mit ihrem Ärmel übers Gesicht. »Es ist für alle das Beste. Wirklich. Sie können sich nicht vorstellen …«
Doch ich glaubte, ihr helfen zu können. »Versuchen Sie es wenigstens noch eine Woche, Emily. Bis zum nächsten Montag. Wenn Ihr Wunsch zu gehen dann immer noch stark genug ist, werde ich alles tun, um eine andere Schule für Sie zu finden.«
»Noch eine Woche?« Sie sah mich durch einen Tränenschleier an. »Ich glaube, ich kann versuchen, noch eine Woche durchzuhalten.«
»Dann tun Sie das.« Ich legte eine Hand auf ihre Schulter. »Und versuchen Sie, mehr Zeit mit den Lehrern zu verbringen. Kommen Sie nach der Schule wieder einmal mit in den Pub. Ich lasse es Sie wissen, wenn Simon und ich wieder ausgehen.«
Sie stand auf und warf dabei ihren Stuhl um. In ihren Augen standen keine Tränen mehr, sondern eine völlig andere Emotion, die ich nicht zu deuten wusste. »Simon?«
»Genau.« Ihr Ton war seltsam. »Was ist denn los?«
»Nichts.« Sie strich ihren Haarvorhang aus dem Gesicht. »Das wäre nett.« Von draußen hörte man das Geplauder von ein paar Mädchen, die auf dem Weg zu ihrer ersten Unterrichtsstunde den Rasen überquerten. Ich sah, wie Emilys Augen sich zusammenzogen, als sie die Schülerinnen beobachtete. »Für einige ist alles ganz leicht, nicht wahr? Die Freundschaften, die Gruppenzugehörigkeit.«
Ich wusste, was sie meinte. Einige Jugendliche schienen dafür geboren zu sein, sich gut in Gruppen einzufügen. Für sie war die Schule sozial betrachtet ein Kinderspiel. Andere, wie Olivia und vermutlich auch Emily, hatten diese angeborene Fähigkeit nicht. Das ständige Zusammenleben mit anderen Menschen war für sie harte Arbeit. »Sie scheinen hier durchs Leben zu gleiten«, sagte ich. »Aber wenn sie abgehen, müssen sie manchmal doch die Erfahrung machen, dass es in der Welt härter zugeht.«
Sie schien eine Erwiderung hinunterzuschlucken.
Ich dachte dabei an mich und daran, wie glücklich und sicher ich mich hier in Letchford und an der Schule in der Stadt gefühlt hatte. Weil meine Eltern meine Ausbildung und mein Leben zu Hause voneinander trennen wollten, hatte ich hier nur meinen Abschluss gemacht. Ich hatte zu den Schülern gehört, die den Trubel im Klassenzimmer genossen, das Plaudern in der Pause im Oberstufenraum. Merry war ich gewesen, fröhlich vom Namen und vom Wesen her. Doch das Leben hatte mir nichts erspart. Vielleicht entwickelten die Schüler, die in der Schule geprüft und erprobt wurden, eine härtere Schale, die ihnen in ihrem späteren Leben half. »Keine Sorge«, sagte ich Emily, obwohl ich gar nicht wusste, welche Sorgen ich ihr ersparen wollte. »Alles wird gut.« Und das sagte ich, wie ich mir eingestand, zu ihrer Beruhigung genauso wie zu meiner.
34
Emily
W enn Leute nett zu ihr waren, verwirrte sie das zutiefst. Es veranlasste sie, sich zu fragen, ob sie ihre Pläne nicht doch über den Haufen werfen sollte. An der Schule bleiben sollte. Als die Person, die sie hätte sein können. Und den Rest vergessen.
Meredith war diese verführerische englische Leichtigkeit eigen. Ihre verstorbene Mutter hatte sie nicht kennengelernt, aber sie stellte sie sich ähnlich vor, nur älter und noch ansprechender. Emily korrigierte sich. Sie hatte Susan Statton natürlich kennengelernt. Als Kleinkind, wenn sie mit ihrer Mutter zur Schule gekommen war, um sich etwas
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