Das geheime Bild
auszuleihen. »Ich mochte Letchford«, hatte Mum Jahre später gesagt. »Man fühlte sich zur Familie gehörig.« Dabei hatte sie auf diese ganz spezielle Weise gelacht, die sich nicht so anhörte, als gäbe es etwas zu lachen.
Auch Simon war zu Emily freundlich gewesen und hatte sie im Auto übers Land zu dem Antiquariat mitgenommen. Er hatte sie vögeln wollen, aber das war okay. Nicht okay war allerdings, dass er sie nicht als mögliche Freundin ernst genommen hatte. Entweder weil er sie für eine harmlose Neunzehnjährige hielt oder weil er sie durchschaut hatte. Wie auch immer, er hatte ihr klar zu verstehen gegeben, dass es nichts weiter als ein Techtelmechtel war. Wenn sie ehrlich war, wollte sie selbst eigentlich auch keine Beziehung. Aber es wurmte sie, dass sie dieser Ehre gar nicht für wert erachtet wurde. Offenbar dachte Simon Radcliffe mit seinen muffigen Stapeln alter Papiere und Fotos von Frauen, die in Kostümen der Edwardzeit über Letchfords Gartenanlagen promenierten, er sei zu gut für sie.
Wut ließ sie hart werden. Sie würde sich nicht ablenken lassen. Denn dann hätte sie ihre Zeit vergeudet. Denk an das, was du dir vorgenommen hast, ermahnte sie sich. Lass dich nicht von Meredith oder Simon oder Olivia oder sonst jemandem auf eine falsche Fährte locken. Denk an Dad. Mum. Toby.
Toby. Sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern. Nur noch der verzweifelte Schrei ihrer Mutter, als diese ihn tot auffand, lebte in ihrer Erinnerung. Emilys Hand wanderte zu ihrem linken Arm. Sie zog den wollenen Ärmel hoch und untersuchte ihre Haut. Fast verheilt. Sie versuchte, den Ärmel wieder darüber zu schieben und den Schnitt zu vergessen. Aber da der Impuls sich nun in ihrem Gehirn festgesetzt hatte, konnte sie ihn nicht mehr beiseitedrängen. So ging es ihr jedes Mal, wenn sie an die Vergangenheit dachte: Immer wieder brauchte sie die Klinge. Es tat weh, wenn man sich ritzte, da gab sie Olivia recht. Manchmal sogar sehr weh. Aber das Gefühl, dass das schlechte Zeug mit dem Blut herausfloss, und die anschließende Erleichterung betäubten den Schmerz.
Olivia hatte genickt. »Man fühlt sich sauber«, hatte sie ihr zugestimmt. »Deshalb mache ich es auch, damit ich mich anschließend rein fühle.« Einmal hatten sie es zusammen gemacht, als sie in der Abenddämmerung am Brunnen saßen. Sie hatten die Blutstropfen ins Wasser fallen lassen. Es war wunderschön gewesen. Emily hatte sich nach dem Gespräch mit Meredith erneut geritzt. Die Blutung hatte auch diesmal ihre beruhigende Wirkung nicht verfehlt. Hatte ihre Entschlusskraft gestärkt.
Emily musste an das erste Mal denken, als sie eine Klinge an ihre Haut anlegte. Es war an einem jener Vormittage gewesen, an denen Dad nicht rechtzeitig zur Arbeit aufgestanden war. Er hatte bis in die frühen Morgenstunden getrunken. Sie war ins Badezimmer gegangen und hatte sich für die Schule fertig gemacht, diese trostlose Schule, die von dem, was Letchford ausmachte, so weit entfernt war, als läge sie auf einem anderen Planeten. Dads Rasierklinge lag unbenutzt auf dem Regal unter dem Spiegel. Wenn er einen guten Morgen hatte, führte er summend die Klinge über sein eingeseiftes Gesicht. Als kleines Kind hatte Emily gern auf dem Badewannenrand gesessen und ihm beim Rasieren zugeguckt, wenn er glatte Linien in den weißen Schaum zog. Sie griff nach dem Rasierer, einem schweren Instrument aus Stahl. Er hatte sie vor der Klinge gewarnt. Dass ich dich damit nie beim Spielen erwische, Em… Sie presste ihren Daumen gegen die Klinge. Nichts passierte. Vielleicht war sie ja doch nicht so scharf, wie sie dachte. Sie presste fester. Ein kleiner Blutstropfen erschien, wie eine Beere. Es brannte. Aber gleichzeitig war da noch ein anderes Gefühl, Erleichterung, als würde durch den Verletzungsschmerz der Schmerz ausgelöscht, den Emily in sich trug. Ein kleiner Schmerz anstatt eines großen.
Sie hatte es wieder getan, nicht allzu oft, aber immer dann, wenn die Kinder in der Schule gemein zu ihr waren. Manchmal schleppte Dad Emily am Sonntag mit in die Kirche, wo sie Hymnen über das reine Blut des Erlösers sangen, das die Sünden wegwusch. Vielleicht war es das, was ihr eigenes Blut tat, es wusch das Schlechte weg. Und beschützte sie alle drei.
Jemanden zu finden, der wusste, worauf es beim Ritzen ankam, war eine Offenbarung gewesen. Sie erinnerte sich an das erste Mal, als sie die Narben an Olivias Arm sah und sie zur Rede stellte. »Ja«, hatte Olivia flüsternd
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