Das geheime Bild
zugegeben. »Es tut mir leid, das habe ich mir selbst zugefügt. Ich weiß, dass ich das nicht tun sollte.«
Daraufhin war alles herausgepurzelt: Olivias Heimweh, ihre Tante Sofia, die so hart arbeitete, ihre Familie im Ausland. Was ihre Tante betraf, war sie sehr zugeknöpft gewesen. Vermutlich sauer, weil Sofia nie Zeit hatte. Emily wusste natürlich bereits das meiste davon. »Wirst du es jemandem sagen?«, hatte Olivia kleinlaut gefragt. »Muss ich dann zu einem Arzt oder so?«
»Nein. Ich werde es niemandem sagen.« Emily hatte ihren Ärmel hochgerollt und ihre eigenen Schnitte gezeigt. »Ich weiß Bescheid, was das Ritzen angeht. Man braucht keine psychiatrischen Verbindungsteams und all den Blödsinn.«
Olivia hatte ihre Augen weit aufgerissen.
»Manchmal empfinde ich es als das Reinste in meinem Leben.« Emily berührte den Schnitt ihres Arms. »Es hilft über schwere Zeiten hinweg. Und ich schade damit niemandem.«
»Genau das denke ich auch. Es hält mich davon ab, den Leuten mit meinen Problemen auf die Nerven zu gehen.«
»Aber es macht einen einsam«, hatte Emily sich vorgetastet. »Ich habe gehört, dass manche Leute sich gemeinsam ritzen.« Olivia hatte sie zweifelnd angesehen. »Um ein Auge aufeinander zu haben. Um sicherzustellen, dass keiner sich schlimm verletzt.«
»Ein Auge aufeinander haben«, meinte Olivia nachdenklich. »Das könnte funktionieren.«
Und Emily hatte den Sprung gewagt. »Mir ist jetzt nach Ritzen zumute. Aber ich will es nicht allein tun.«
Olivia war mit großen Augen zurückgeschreckt. Emily hatte sich innerlich verflucht. Zu viel zu schnell. »Ich habe einen harten Tag gehabt«, sagte Olivia zögernd. »Ich weiß, dass ich mich besser fühle, wenn ich mich ritze, aber …«
»Du solltest es nicht allein tun«, fiel Emily ihr rasch ins Wort. »Weißt du was, bleib doch einfach bei mir, während ich es tue. Dann sehen wir schon, was passiert.« Sie hatte die Rasierklinge in einem Taschentuch eingewickelt in ihrer Hosentasche stecken. Und noch eine Ersatzklinge. »Teile deine Klingen nie mit jemandem. Die hier sind neu«, erklärte sie Olivia. Sie hatte die erste Klinge ausgewickelt und sie über ihren linken Oberarm gezogen. Eine feine dunkle Linie tauchte auf. Schön. Wie der Pinselstrich eines Malers. Olivia sah zu. »Danke, dass du bei mir bleibst«, sagte sie zu dem Mädchen.
Dann hatte Olivia die Hand nach der zweiten Klinge ausgestreckt und eine ähnliche Linie auf dem Rücken ihres Handgelenks gezogen. »Jetzt sind wir wie Schwestern«, sagte sie. Das rote Mal auf ihrer bleichen Haut war wie ein Seidenfaden. Dann formte sich am Ende eine Blutperle.
Aber das war vorbei. Olivia hatte mit Ritzen aufgehört. Vielleicht hatte der Schreck, als sie über die Marmorstufen nach unten stürzte, etwas in ihrem Gehirn aufgerüttelt. Das war bedauerlich. Emily hatte nicht vorgehabt, sie zu stoßen, es war einfach so passiert, als Olivia gestänkert hatte, sie wolle nicht im Haus herumspionieren, während der Rest ihrer Internatsgruppe sich eine DVD ansah.
Jetzt trug Olivia dieses blöde elastische Band um ihr Handgelenk. Behauptete, es schnalzen zu lassen sei eine Form der Akupressur oder so und helfe ihr, locker zu werden oder sie vom Verlangen, sich zu ritzen, abzulenken. Außerdem schien Olivia in den letzten Wochen sehr viel umtriebiger geworden zu sein. Natürlich band das Theaterstück all ihre Energie. Und der Leistungsdruck war gestiegen, nachdem das Trimester nun halb vorbei war. Man wurde hier richtig gefordert, trotz all des liberalen Wischiwaschis von wegen, den Schülern sei es hier vergönnt, sich in einem Umfeld zu entfalten, das sie trägt und ermutigt. Wäre auch Emily auf einer Schule wie dieser gewesen, wer weiß, was sie dann aus sich gemacht hätte. Emily Fleming hätte ihr echtes, ihr volles Selbst zur Entfaltung gebracht.
Aber genug des Selbstmitleids. Die Zeit war knapp. Das Spiel war der geeignete Anlass, die Sache auf die Spitze zu treiben. Alle wären anwesend: Eltern, viele Lehrer und Mitarbeiter, Schulbeiräte. Sie musste einen Weg finden, alles zusammenzuführen.
Aber als Erstes musste sie in Erfahrung bringen, zu welchen Erkenntnissen die Pragreise von Meredith und Charles geführt hatte. Emily hatte Anrufe getätigt, Nachrichten auf Anrufbeantwortern hinterlassen, aber bis jetzt hatte sie noch keine Antworten bekommen.
Manchmal betrachtete Charles sie auf seltsame Weise. Wusste er vielleicht, wer sie war? Sie könnte versuchen, sich
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