Das geheime Kind
Welt. Sein Mädchen.
Ohne hinzusehen nahm er einen Bleistift vom Schreibtisch und brach ihn entzwei. »Ich stehe also unter Verdacht, mich an meiner eigenen Tochter vergangen zu haben.«
»Wir müssen es in Betracht ziehen.«
»Aber ich bin Corinnes Vater.«
»Ja.«
»Da war nichts. Nie im Leben. Eher würd’ ich mir was abhacken.«
»Bei Missbrauch gibt es jede Menge Verletzungen.«
»Seid ihr Bullen alle krank?«
Heide schwieg und beobachtete, wie Bahling die Wahrheit weiter an sich heranließ. Kam da etwas hoch, altes Gift, eine Versuchung aus lange zurückliegenden Tagen? Oder krachten nur triviale Gewissheiten in sich zusammen?
Er ballte seine Rechte zur Faust. »Wenn ich den erwische, der Corinne das angetan hat! Ich mach ihn fertig! Ohne zu fragen warum und wieso. Ich mach ihn fix und fertig!«
»So einfach ist es nicht.«
»Bringen Sie mich zu meiner Tochter.«
VERA BAHLING HÖRTE über eine Bekannte in der Verwaltung des Krankenhauses Köln-Kalk, dass Corinne eingeliefert worden war. Sie beendete eine Schwangeren-Vorsorgeuntersuchung und kam mit ihrem alten Micra sofort zur Klinik.
Niemand, weder Ärzte noch Schwestern, hielt sich für befugt, ihr Auskunft zu erteilen. Man ließ sie auch nicht zu Corinne durch. Polizeiliche Anordnung.
Sie setzte sich in den leeren Besucherraum, sagte per Handy ihre nächsten Termine ab und wartete voller Anspannung auf Neuigkeiten aus der Intensivstation. Zu viele Tabletten, mehr wusste sie nicht.
Dann sah sie Nicolas auf dem Gang. Was hatte er hier verloren? Wie war er überhaupt hergekommen? Ein Polizist in Zivil begleitete ihn. Stellte sich vor.
Der Junge war ein Nervenbündel. Er kaute wie verrückt an den Fingernägeln, wie immer, wenn Ungewohntes auf ihn einstürmte. Vera bekam nichts aus ihm heraus.
Hilgers bat die Krankenschwestern, den Besucherraum für den Publikumsverkehr zu sperren. Spannte rot-weiße Bänder, stellte Schilder auf.
Schließlich gab er Vera Bahling einen kurzen Bericht. Er wollte der Mutter nichts vorenthalten. Zugleich konnte er wenig tun, um die schlechten Nachrichten abzumildern. Hin und wieder stellte sie ungläubige Fragen, Corinnes Schwangerschaft und das Kind betreffend. Hilgers bestätigte, woran nach Lage der Dinge nicht mehr zu rütteln war. Gleich kämen seine Kollegen Photini Dirou und Jakub Skočdopole, sie würden sich ausführlicher mit Frau Bahling unterhalten und waren vielleicht in der Lage, eine Deutung der Ereignisse zu liefern. Er selbst kümmere sich inzwischen um Nicolas, kein Problem.
Eigentlich sollte Hilgers an Corinnes Bett Wache halten. Aber dann war Reintgen aufgetaucht und hatte ihn abgelöst. Eine gute Gelegenheit, den Jungen zu beruhigen. Seiner Schwester im künstlichen Koma war momentan ohnehin nicht zu helfen.
Sie gingen auf die Dachterrasse der Cafeteria. Ein paar Raucher scharten sich um einen Aschenbecher, als wär’s der Heilige Gral. Zugeklappte Sonnenschirme, Stuhlstapel. Ein Stückchen weiter lag ein kleiner Garten, wo man sich die Beine vertreten konnte.
Nicolas machte eine Atemübung. Das hatte ihm der Schulpsychologe beigebracht. Ruhig bleiben, wenn die Welt auseinanderfiel.
Nutzte nur nichts.
In Corinnes Wohnung hatte er die vielen neuen Reize noch verhältnismäßig gut aufgenommen. Vor lauter Aufregung und Sorge war er klar im Kopf geblieben. Hatte instinktiv das Richtige getan.
Im Krankenhaus wurden ihm wieder seine Grenzen bewusst. Hier war er Zuschauer, machtlos, zum Stillsitzen verdammt. Während alle den Blick auf ihn richteten, etwas zu ihm sagten, fragend, bedauernd, bevormundend.
Eine unsichtbare Wand schob sich zwischen Nicolas und dem Rest da draußen. Nichts drang mehr durch.
Er suchte einen Ort, wo er allein sein konnte. Wo all die Eindrücke entweder verschwanden oder sich nach und nach zerstreuten. Wie eine Herde wilder Pferde. Eine Zeit lang waren die Tiere eingepfercht, gegen ihren Willen, gegen die Natur. Bei der ersten Gelegenheit brachen sie aus und flohen in die Berge. Sie galoppierten, über Stock und Stein, bis zur Erschöpfung. Erst wenn sie sich halbwegs sicher fühlten, wurden sie langsamer, fielen in den Schritt. Einige blieben stehen, andere trabten aufs Geratewohl weiter.
So war das mit Nicolas’ Gedanken. Er stand auf einer Platte in einer Ecke des Gartens. Die Platte war quadratisch. Er stellte sich vor, ein Pferd zu sein. Wie beim Schach.
Auch Vera rührte sich im Besucherraum nicht vom Fleck. Es sah so aus, als würde sie schlafen.
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