Das geheime Kind
sprechen, sobald es ihr besserging. Dann würde sich der Rest klären.
»Ich frage mich, ob Wintrichs Mörder etwas von Corinnes Doppelleben wusste«, sagte Photini. »Hat sie ihn beim Video-Chat kennengelernt?«
Raupach wurde ungehalten. »Sind Nacktfotos eigentlich generell unbewusste Hilferufe?« Er fand, dass die Analyse von Corinnes Verhalten langsam ausuferte und nur noch auf reinen Hypothesen beruhte. Beweisen ließ sich das alles nicht. »Wir sollten diese Bilder nicht überbewerten. Ich meine, viele junge Frauen haben Spaß daran, sich vor der Kamera auszuziehen. Sie kokettieren mit ihrer Sexualität, wollen Tabus brechen, ein bisschen unanständig sein. Das Internet ist voll davon und die Buchhandlungen auch, Sexbeichten verkaufen sich prima. Wollt ihr mir weismachen, dass hinter jedem blanken Busen eine Missbrauchsgeschichte steckt plus seelische Störung?«
Jakub klickte ein noch freizügigeres Bild an. Corinne spreizte im Sitzen die Beine und hielt ihre Knie mit den Händen fest. Die Aufnahme war schlecht ausgeleuchtet, aber der Intimbereich war dennoch detailliert sichtbar.
»Ich sehe hier zweierlei. Totale Selbstauslieferung, ohne Wenn und Aber. Zugleich die klassische Gebärstellung. Vielleicht wusste sie zum Zeitpunkt der Aufnahmen bereits, dass sie schwanger war.« Er rückte ein wenig vom Bildschirm ab. »Wir haben hier Ohnmacht und Macht in einem, das ideale Sinnbild für Corinnes gespaltene Psyche.«
Raupach stellte sich neben ihn. »Für mich ist das einfach nur Pornographie.«
Photini beugte sich vor und kniff die Augen zusammen, damit ihr nichts entging. »Ihr müsst auf den Gesichtsausdruck achten. Sie sieht aus, als würde sie üben. Es ist ihr völlig gleichgültig, ob ihr jemand dabei zuschaut. Sie macht das ganz allein für sich.«
»Wir sind davon ausgegangen, dass die Fotos mit Selbstauslöser aufgenommen wurden«, sagte Raupach. »Kann es nicht doch sein, dass jemand sie dazu gezwungen hat?«
Jakub schüttelte bedauernd den Kopf. »Das wünschst du dir vielleicht. Damit Corinne dir weniger verkorkst vorkommt. Aber ich sehe da keinen äußeren Druck. Es wirkt eher wie eine Befreiung.«
»Emanzipation per Schmuddelbildchen?«, widersprach Raupach.
»Da steckt viel mehr drin.«
Photini klappte das Laptop zu. »Schluss jetzt! Ich glaube immer noch, dass Corinne in der Zeit zwischen der Geburt und dem Kindsmord ein einschneidendes Erlebnis hatte. Etwas, das ihr Elend noch vertieft hat. Und das finden wir nicht auf diesen Fotos. Da fehlt etwas.«
»Was denn?«
Photini stellte Numi, den Eisbär, neben das Laptop. »Ihr altes Schmusetier. Das hätte ihr vielleicht über die PND hinweggeholfen. Wie ein Talisman.«
»Ein Eisbär?«, wunderte sich Jakub.
Sie erklärte, was Doktor Fründt über Corinne und die beruhigende Wirkung von Spielzeug gesagt hatte.
»Aber sie kam gar nicht an das Ding ran«, wandte Raupach ein. »Wintrich hat es versetzt, vor zwei Wochen.« Während er den Satz aussprach, begriff er. Vor zwei Wochen.
»In Corinnes Wohnung gibt es keine Schmusetiere.« Photini drückte Numis Bauch. »Vielleicht hat sie ihren Bären gesucht, als es ihr nach der Hausgeburt immer dreckiger ging. Und dabei ist etwas passiert. Etwas, das niemals wieder passieren durfte.«
HEIDE KLOPFTE AN DIE TÜR der Juniorsuite. Höttges keuchte vom Treppensteigen und rang nach Luft.
Der Oberkellner des »Brabanter Hof« hatte ihnen den Weg gewiesen. Der distinguierte ältere Herr wirkte wie jemand, der mehr vom Leben gesehen hatte, als ihm lieb war, und müde geworden war, sich darüber zu wundern. Er zeigte sich erstaunlich auskunftsfreudig. Am späten Nachmittag mache Bahling immer seine Runde durchs Hotel. Er kontrolliere unbelegte Zimmer, obwohl das eigentlich nicht zu seinem Aufgabenbereich gehörte, weise neues Personal ein. Stockwerk, Nummer der Suite, der Restaurantchef sei nicht zu verfehlen.
»Wer ist da?«, drang es nach einer Weile durch die Tür.
»Kripo Köln. Wir möchten zu Klaus Bahling.«
»Kommen Sie in einer Stunde wieder!«
Heide betrachtete die Maserung des Holzdekors, dann die Klinke und das Chipkarten-Schloss. Sie schaute zu Höttges. »Haben Sie das auch gehört?«, fragte sie ihn.
»Laut und deutlich.«
»Es ist dringend«, versuchte sie es nachdrücklicher. »Ein Notfall.«
»Kann das nicht warten?«
Heide hieb mehrmals mit voller Gewalt gegen die Tür. Es dröhnte wie bei einem Überfallkommando. »Polizei! Machen Sie auf, sonst kommen wir
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