Das geheime Kind
Hilgers die Plastiktüte mit dem Stoffbären und stellte einige Routinefragen. »Kennen Sie das Mädchen? Hat sie feste Gewohnheiten?«
»Wollen Sie ihr Ärger machen?«
»Vielleicht kann Corinne uns bei einem schwierigen Fall helfen, das ist alles, Frau …«
»Drove. Na ja, eigentlich geht sie selten weg. Und ruhig ist es bei ihr auch. In ihrem Alter hab ich keine Party ausgelassen. Was ist bloß los mit den jungen Leuten?«
»Hat sie einen Freund?«
»Hab nichts davon mitgekriegt.«
»Wir ziehen Erkundigungen über einen fünfundvierzigjährigen Mann ein, den Lebensgefährten von Corinnes Mutter.« Photini beschrieb Otto Wintrich.
»So einen hab ich mal hier gesehen. Kam mir im Treppenhaus entgegen.« Frau Drove nickte bestätigend. »Bisschen ungepflegt, aber höflich. Besorgt. War zumindest mein Eindruck.«
»Dieser Mann war bei Corinne Bahling? Wann?«
»Das ist ’ne Weile her, vor ein paar Monaten im Sommer. Viel Besuch hat sie ja nicht, deshalb ist er mir aufgefallen. Tagsüber gehe ich höchstens mal zum Einkaufen raus, oder zum Friseur.«
»Hausfrau?«
»Auf Wunsch auch das.« Ein abschätziger Blick, der wie von selbst zu Hilgers wanderte und dessen billige Outdoor-Jacke und die Fusseln an den Klettverschlüssen registrierte. »Wollen Sie’s genauer wissen?«
»Ist schon in Ordnung.« Photini zeigte ihr das Foto von Wintrichs Leiche und legte eine Kurzfassung des Mordfalls dar.
Frau Drove hatte längst vermutet, dass es um ein Gewaltverbrechen ging. Mit Polizisten kannte sie sich aus, noch besser als mit Männern, eine ganze Reihe ihrer Kunden waren beides. »Das ist er, ganz bestimmt. Er war sogar mehrmals da. Hab schon geahnt, dass er zur Familie gehört, weil er so selbstverständlich zu Corinne hochging.«
»Meinen Sie, zwischen den beiden ist was gelaufen?«
»Stiefvater, sagen Sie.« Sie überlegte und lehnte sich gegen den Türstock. »Missbrauch ist das Erste, was mir dazu einfällt. Ihre Statistiken sind sicher voll davon.«
»O ja.« Photini erinnerte sich an ihre Zeit im Polizeiarchiv. Für Stiefväter und deren Ausraster existierte eine gesonderte Abteilung. »Vielleicht hat es schon früher angefangen. Bevor Corinne bei ihrer Mutter auszog. Aber egal, warum ließ ihn das Mädchen überhaupt in ihre Wohnung?«
»Missbrauch führt oft zu sexueller Abhängigkeit, und die geht immer seltsame Wege. Außerdem kennen solche Typen viele Druckmittel.«
»Und wie wär’s mit Liebe?«, schlug Photini vor.
»In Konkurrenz zur leiblichen Mutter. Schau mal, Mama, wie leicht dein Macker rumzukriegen ist. So was?«
»Oder Vaterkomplex. Der hebt jeden Altersunterschied auf.«
»Kennt man ja, junge Dinger, alte Herren. Irgendwelche Gefühle werden da schon dabei sein.«
Sie standen immer noch vor Frau Droves Tür im Treppenhaus. Hilgers hielt das Gespräch auf seinem Schreibblock fest und sagte keinen Ton.
»Eigentlich müsste ich Sie reinbitten, aber das mache ich nur gegen Barzahlung.«
»Nicht nötig«, sagte Photini. »Sie haben uns sehr geholfen.«
»Geben Sie mir Ihre Karte. Wenn mir noch was einfällt.«
Die Kommissarin tastete überrascht nach ihrer Geldbörse. »Freut mich, dass Sie so gut mitarbeiten.«
»Ein bisschen Solidarität tut keinem weh.«
»Wir gehen der Sache auf den Grund.«
Frau Drove hob die Hand und betrachtete die abblätternde Deckenfarbe, dann die halbhohen Fliesen an der Wand. Schließlich fiel es ihr ein. »Keine Ahnung, ob das wichtig ist, aber da gab es noch jemanden. Einen Taxifahrer. Jung, vielleicht Ausländer. Der war vor diesem Wintrich da, im Frühjahr. Attraktiv, das sind sie ja fast alle Anfang zwanzig. Sah wie die große Romanze aus, wenn er Corinne unten absetzte. In dieser Gegend kommt das selten vor.«
Plavotics Foto befand sich ebenfalls in Photinis kleinem Album. »Er ist 23 und hat mir das hier verpasst.« Sie ließ das Band ihrer Augenklappe schnalzen. »Auch eine Art Romanze.«
RAUPACH STELLTE DEN ASCHENBECHER auf den Tisch. Er hatte sich Zeit gelassen. Im Internet das aktuelle Kinoprogramm aufgerufen. Und einen Anruf von seiner Partnerin erhalten.
»Ich hab Ihnen doch schon gesagt, dass es vorbei ist.« Milan drückte seine Zigarette aus, die Asche war auf dem Boden verstreut.
»Weil deine Freundin einen anderen hatte?«, fragte Jakub.
»Ist das von Belang?«
»Ich versuche nur zu rekonstruieren, wie –«
»Aus dieser Sache kommst du nicht mehr raus«, unterbrach ihn Raupach und setzte sich. »Was ist vorgestern Nacht
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