Das geheime Kind
der Leinwand zu sehen. Auch Mittäter machen Fehler.«
Schweigen. Milan brütete vor sich hin.
Jakub konnte sich nicht erinnern, Raupach jemals so konfrontativ erlebt zu haben. Er zog alle Register, ohne Rücksicht auf Verluste, drückte Plavotic förmlich an die Wand. Irgendwann würde der Junge auspacken, daran bestand kein Zweifel. Aber war es nicht besser, erst mehr über ihn zu erfahren und zumindest den Anschein von Hilfsbereitschaft zu erwecken? Dann gewänne das, was er zu sagen hatte, an Wert.
»Ich brauche eine Pause«, sagte Milan schließlich. »So viel Bullshit auf einem Haufen hält ja kein Mensch aus.«
»Gut, versteh ich. Wenn man das komplette Bild vor sich sieht, muss man das erstmal verdauen.« Raupach ging zur Tür und öffnete sie einen Spalt. Er winkte Mülder herbei, gab ihm eine Anweisung und kam zurück an den Tisch. »Du hast Besuch. Wir bleiben hier, wenn du nichts dagegen hast.«
Mülder führte Tihomir und Ivanka Plavotic herein. Sie wussten bereits, was ihrem Neffen zur Last gelegt wurde. Zuerst kamen sie auf die Drogen zu sprechen, dann auf den Mordverdacht. Sie verteidigten Milan, sahen das wohl als ihre Pflicht an. Offenbar dachten sie, es würde reichen, wenn sie ein gutes Wort für ihn einlegten, um ihn mit nach Hause zu nehmen. Aber der Schreck saß ihnen in den Gliedern, und ihre stummen Vorwürfe hingen in der Luft wie Kellergeruch. Sie fragten sogar nach der Höhe der Kaution, worauf Jakub ihnen erklärte, dass der Staatsanwalt einen entsprechenden Antrag mit großer Wahrscheinlichkeit verwerfen würde, der Verdacht gegen ihren Neffen wöge zu schwer.
Milan schwieg zu allem und wusste nicht, wo er hinsehen sollte. Alles an ihm, die Körpersprache und die wenigen Blicke, mit denen er seine Ersatzeltern streifte, verriet schiere Verzweiflung. Schließlich vergrub er das Gesicht in den Händen und zog sich an einen Ort zurück, den nur er selbst kannte.
Es wurde eine lange Pause.
HEIDE DREHTE DEM PRESSEFOTOGRAFEN den Arm auf den Rücken und beförderte ihn mit einem leichten Schubser auf den Rasen. Er krümmte sich theatralisch, schaffte es aber, seine Kamera mit der freien Hand festzuhalten.
»Das war Widerstand gegen die Staatsgewalt und vorsätzliche Behinderung der Polizeiarbeit. Ich will Sie hier nicht mehr sehen, sonst zahlen Sie ein Zwangsgeld oder Sie landen gleich in der Zelle.«
Höttges wollte dem Mann aufhelfen.
»Finger weg! Sehen Sie zu, dass er uns nicht noch einmal in die Quere kommt. Und schärfen Sie Dresen ein, dass ich ihn mir zur Brust nehme, wenn der nächste Aasgeier durch die Absperrungen schlüpft.«
»Wird gemacht.« Höttges führte den Fotografen ab.
Heide schickte einen erbosten Blick gen Himmel, wo der Hubschrauber eines Privatsenders Position hielt, um Live-Bilder von der »Hatz auf den Babykiller« einzufangen. Eigentlich hatte sie nichts gegen die Medien. Sie verstand auch das öffentliche Interesse an dem Fall. Sie hasste nur jede Form von Störung.
Dann wandte sie sich wieder dem Führer der Hundestaffel zu. »Ganz sicher?«
»Die Jungs sind gut in Form heute Morgen. Der Tau hat sich lange gehalten, wie eine Schutzschicht. Und jetzt wird’s wärmer. Ideale Bedingungen.«
Er tätschelte seinem Liebling, einem Labrador Retriever, den Kopf und gab ihm ein geschmacksneutrales Beißspielzeug. »Hast du fein gemacht, Balu.«
Balu stürzte sich auf den Polyesterknoten und kaute darauf herum. Weitere Hunde kamen hinzu, die leere Sporttasche wurde herumgereicht.
Ein Gebüsch in einer schattigen Ecke des Botanischen Gartens, dahinter ein Zaun, an den Wohnhäuser angrenzten. Hier hatte die Tasche mit dem toten Kind angeblich gelegen, etwa zwei Kilometer vom Fundort am Niederländer Ufer entfernt. Die Hunde waren kaum zu halten gewesen. Heide staunte stets aufs Neue, wie zielstrebig die Viecher ihrer Nase folgten. Fußgängerampeln über sechs Fahrspuren, schmale Gehwege, gesäumt von allen nur denkbaren Exkrementen – alles kein Thema für sogenannte Mantrailer, das waren Hunde, die nach den Duftmolekülen einer Zielperson suchten. Sie orientierten sich an individuellen Geruchsmerkmalen, die an der Tasche und vor allem im Gras zurückgeblieben waren.
Balu verlor das Interesse an seinem Kauknoten und zog erneut an der Leine. »Es geht weiter«, sagte der Hundeführer. »Das war nur eine Zwischenstation.«
»Gleich.« Heide prägte sich die Stelle ein. »Sie kennen ja das Programm, Effie. Textilfasern, Schuhspuren, vielleicht sogar
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