Das geheime Kind
worauf sie ihr Telefonat beendete und eine Einkaufsliste schrieb mit leicht zu findenden Produkten, Milch, Butter, Hackfleisch. Sie freute sich, wie selbständig er inzwischen war.
»Bist du noch traurig wegen Otto?«, fragte er.
Sie griff nach ihrer Tasse. Der Tee war kalt. »Ja, sehr«, sagte sie schließlich. »Ich hab die ganze Nacht geweint.«
Das stimmte, er hatte es durch die Wand gehört. Mama war offen mit ihm, sagte immer die Wahrheit. Doch sie sah immer nur das, wovon sie annahm, dass es sie und ihre Familie unmittelbar betraf. Dabei entging ihr so viel.
»Er fehlt dir, oder?«, fragte Nicolas.
»Ja.«
»Mir auch. Mit wem soll ich jetzt Schach spielen?«
Sie lachte gequält. »Vielleicht bringst du es mir bei?«
»Aber wann sollen wir spielen? Du bist doch nie da.«
»Das wird sich ändern, mein Schatz. Ich spreche mit deinem Vater, wir brauchen mehr Geld, damit ich nicht so viel arbeiten muss. Es gibt keinen Grund mehr für seine Eifersucht, Otto ist tot. Da kann er tiefer in die Tasche greifen.«
»Ich gehe jetzt.« Nicolas missfiel es, wenn Mama über Papa redete, als säße er auf einer Schatztruhe, deren Inhalt er mit niemandem teilen wollte.
Er steuerte das Internet-Café an und gab Corinnes Adresse in eine Suchmaschine ein, so wie er es geplant hatte. Warum war ihm das nicht früher eingefallen?
Die Suchmaschine zeigte einen Stadtplan an und, was viel nützlicher war, eine genaue Wegbeschreibung. Wann man wo abbiegen musste, mit den genauen Entfernungen, nach 300 Metern rechts, dann 100 Meter geradeaus, und so weiter. Er druckte alles aus.
Jetzt war es einfach, nach Mülheim zu finden, ohne dauernd befürchten zu müssen, dass er sich verirrte. Er kam sogar an Orten vorbei, die er bereits kannte, an denen er kürzlich erst gewesen war. Bei Tage sahen sie ganz anders aus. Ungewöhnlich viel Polizei war auf den Straßen. Suchten die noch nach Ottos Mörder?
Dünnwalder Straße. Die richtige Hausnummer. Ein Klingelschild mit dem richtigen Namen.
Er drückte auf den Knopf.
Nichts.
Er probierte es erneut.
Noch einmal.
Die Tür öffnete sich, ein Mann kam mit einem Fahrrad heraus. Nicolas schlüpfte ins Haus.
Er arbeitete sich Stockwerk für Stockwerk vor, bis unters Dach.
»C. Bahling« stand handgeschrieben auf einem Aufkleber an der letzten Tür.
Er klopfte, ganz laut. »Corinne! Bist du da?«
Der Nachhall verlor sich in den Gängen des Mietshauses.
Nicolas presste seine Stirn gegen die Tür. Sie war da, er konnte es deutlich spüren. Corinne befand sich irgendwo hinter dieser lackierten Holzplatte.
Vielleicht durfte sie kein Geräusch machen. Vielleicht konnte sie sich nicht rühren. Vielleicht war sie wieder krank und starrte an die Decke wie früher. Er hatte ihren Erklärungen immer Glauben geschenkt, Mama auch, doch langsam begann er daran zu zweifeln. Wie war es möglich, gesund einzuschlafen und mit Kopfschmerzen und Übelkeit aufzuwachen?
Er hämmerte ein paarmal gegen das Namensschild.
Wartete wieder.
Bis er ein Geräusch hörte. Was war das? Stöhnen? Ein Hilferuf?
Nicolas nahm Anlauf und warf sich gegen die Tür.
Das Schloss hielt. Aber eine Angel gab nach.
Noch mehr Gewalt, er hieb sich durch, Holzsplitter bohrten sich in seine Fäuste.
Er war drin.
Corinne lag auf dem Sofa, in Form einer Mumie. So krank wie noch nie, er rüttelte an ihr, schüttelte sie, ihre Augen blieben geschlossen.
Nicolas kämpfte gegen den Schock. Er musste etwas tun.
»EINE ÜBERDOSIS Beruhigungsmittel.«Clausing hielt eine Schachtel mit dem Aufdruck »Muster« hoch. »Der Junge hat ihr den Finger in den Hals gesteckt, damit sie sich übergibt. Dann brachte er sie in eine stabile Seitenlage. Besser geht’s nicht.«
»Wird sie’s überleben?«, fragte Photini.
»Wir stabilisieren sie und pumpen ihr den Magen aus. Physisch müsste sie’s packen. Aber für den Kopf bin ich nicht zuständig.«
»Gehirnschäden?«
»Das glaube ich nicht. Atmung war noch da.«
Corinne wurde zum Abtransport ins Krankenhaus Köln-Kalk fertig gemacht, dort landeten alle Fälle der Polizei. Nicolas wollte mitgehen, doch Hilgers hielt ihn zurück. »Du kannst jetzt nichts mehr tun. Wir brauchen dich hier.«
»Nein!« Er wehrte sich mit allem, was er hatte.
Hilgers hielt ihn auf Abstand und wich seinen erstaunlich gut gezielten Schlägen aus.
»Sie können mir nichts befehlen! Ich bleib bei meiner Schwester!«
Nicolas trat dem Bullen gegen das Schienbein, Hilgers knickte ein und sah eine Faust
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