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Das geheime Kind

Das geheime Kind

Titel: Das geheime Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Kastura
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»Kennen Sie das Gefühl, wenn man eine Eigenart an jemandem bemerkt, die einem irgendwie ungut vorkommt? So ging es mir mit Corinne. Sie hatte diesen seltsamen Tick. Unter Stress, etwa, wenn ein Baby nicht aufhören wollte zu schreien und sich immer weiter hineinsteigerte, dass es kaum mehr Luft bekam, in schwierigen Situationen eben, da schnappte sie sich irgendein Spielzeug – nicht um das Baby zu beruhigen, sondern sich selbst. Sie drückte es an sich, probierte die Funktionen aus, machte Geräusche dazu. Wir haben hier eine ganze Sammlung, für Säuglinge, auch für ältere Kinder, die zu Besuch kommen. Fingerpuppen, Rasseln, Stoffbücher, Spieluhren. Corinne konnte sich endlos damit beschäftigen.«
    »Haben wir nicht alle unsere Rituale, um den kleinen Krisen des Alltags zu entfliehen?«, fragte Hilgers.
    »Bei Corinne nahm das bedenkliche Ausmaße an. Sie tauchte regelrecht ab, dann war sie gar nicht mehr ansprechbar.« Das Telefon der Ärztin klingelte. Sie nahm ab, gab ein paar Instruktionen und sagte, dass sie gleich zur Visite komme.
    »Das dürfte dann alles sein, vielen Dank.« Photini konnte sich keinen Reim auf diese Beobachtungen machen. Als Nächstes wollte sie sich mit Vera Bahling unterhalten und sie über Corinnes Ausbildungsabbruch informieren. Die Mutter hatte ein Anrecht darauf, ebenso Klaus Bahling. Vielleicht hatte sich das Mädchen ihrem Vater sogar anvertraut.
    »Ich wünschte, sie wäre zugänglicher gewesen«, setzte Doktor Fründt hinzu. »Wir haben hier leider nicht die Zeit, auf die Probleme der Auszubildenden einzugehen. Wenn Corinne meine Tochter wäre, hätte ich ihr eine Psychotherapie vorgeschlagen. Irgendetwas stimmt nicht mit dem Mädchen, etwas Grundsätzliches. Ab und zu bricht es durch und macht aus ihr einen komplett anderen Menschen.«
    »Hat sie so etwas wie eine gespaltene Persönlichkeit?«, fragte Hilgers.
    »Ich würde eher von einer dissoziativen Störung sprechen, schwach ausgeprägt.«
    »Was ist das?«
    »Corinne zeigt manchmal ein Verhalten, über das sie wahrscheinlich keine bewusste Kontrolle hat. Wenn sie uns zum Beispiel jetzt Gesellschaft leisten würde und sich all die unangenehmen Fragen anhören müsste … Ich bin mir sicher, sie würde einfach ihr Stofftier nehmen und sich damit ans andere Ende des Raumes verziehen. Später, wenn die Krise nach Corinnes Empfinden ausgestanden wäre, würde sie wieder ganz normal an die Arbeit gehen. Ohne sich daran zu erinnern, worüber wir geredet haben.«
    »Sie blendet aus, was ihr Angst macht.«
    »Man muss sich das mehr wie einen Riss vorstellen. Aber ich bin kein Psychologe. Jemand sollte sich die Mühe machen, genauer nachzuforschen.«
    »Wir tun, was wir können«, erwiderte Hilgers.
     
    SIE VERLIESSEN DEN AUFENTHALTSRAUM, die Ärztin kehrte zu ihrem Dienst zurück, die Polizisten nahmen die Treppe. Photini hatte mitten in der Befragung einen Anruf auf ihrem stumm geschalteten Handy erhalten. Raupach. Mal sehen, was es Neues gab.
    Es dauerte eine Weile, den Stand der Dinge abzugleichen. Die Suche nach Corinne, Plavotics Vernehmung im Präsidium, der Hundestaffeleinsatz im Nordpark und im Kürbisbeet der Heckenrose.
    Photini wurde immer angespannter. Die konnte nur eins bedeuten. Verdammt!
    »Ich denke nicht, dass Corinne abgehauen ist«, fasste Raupach ihre Befürchtungen zusammen.
    »Sie hat sich eingeigelt.«
    »Der Abbruch ihrer Ausbildung vor einem halben Jahr würde zeitlich passen. Das Mädchen war schwanger.«
    Er klang wie ein Rechenmeister des Todes. »Die Babyleiche«, sagte Photini. »Es war ihres.«
    »Sie hielt es geheim.«
    »Zumindest vor ihrer Mutter.«
    »Psychisch labil, bei Belastung überfordert. Sie könnte nachgeholfen haben.«
    »Postnatale Depression.«
    »Corinne war am Tatort in der Heckenrose. Sie hat ziemlich große Füße, ich habe das nicht bedacht bei den Schuhspuren. Corinne, Milan, Wintrich. Fehlt noch Nummer vier. Kotissek? Klaus Bahling?«
    »Das ist momentan meine geringste Sorge«, sagte Photini. »Als wir vorhin bei ihr geklingelt haben … Was, wenn sie einfach nicht aufgemacht hat?«
    »Wart ihr bei ihr oben? Habt ihr an die Tür geklopft, aufmachen, Polizei?«
    »Ich dachte, das sei nicht nötig.« Photinis Stimme war so dünn wie ein alter Nähfaden.
    Raupach fluchte im Stillen. Was, wenn Corinne nicht mehr in der Lage gewesen war aufzumachen? Er spürte Photinis Beklemmung durch das Handy. Sie hatte die Sorte Fehler gemacht, die einen Bullen lebenslang

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