Das geheime Kind
auf sich zufliegen.
Photini hielt Nicolas’ Arm fest, drückte ihn zu Boden und nahm ihn in den Kreuzfesselgriff, so dass er sich nicht mehr rühren konnte. »Schluss jetzt!«
»Ich lass sie nicht allein«, stieß er hervor. »Was haben die Sanitäter mit ihr vor?«
»So, wie du dich hier aufführst, landest du noch im Knast. Was wolltest du bei Corinne?«
»Sie besuchen.«
»Trittst du dafür immer die Tür ein?«
»Ich bin zum ersten Mal hier. Ich hatte Angst, dass ihr was passiert ist.«
»Wie bist du darauf gekommen, dass sie in Lebensgefahr schwebt? Hat sie bei euch angerufen?«
»Ich hatte eben Angst!«, wiederholte er.
»Woher wusstest du überhaupt, dass Corinne zu Hause ist? Wart ihr verabredet?«
»Nein, aber ich muss jetzt bei ihr sein!«, krächzte er. »Ich bin ihr Bruder!«
Photini überlegte. Vielleicht half Nicolas’ Anwesenheit dem Mädchen. »Also gut. Aber du hörst auf das, was man dir sagt, verstanden?«
»Ja.«
»Ehrenwort? Sonst schicken wir dich heim.«
»Ehrenwort.«
Sie ließ ihn los. »Fahren Sie mit ihm hinterher«, wies sie Hilgers an. »Schließlich hat er Corinne gerettet, so wie es aussieht.«
Nicolas erhob sich. »Na endlich«, sagte er und folgte den Rettungshelfern. Thorben war nicht dabei.
Photini nahm Hilgers beiseite. »Passen Sie auf ihn auf. Wenn zu viele Reize auf ihn einprasseln, wird er rabiat, dafür kann er nichts.« Sie erklärte ihm auf die Schnelle das Asperger-Syndrom. »Ich will wissen, was er so quasselt«, setzte sie hinzu. »Auch wenn es klingt wie dummes Zeug. Der Junge ist nicht dumm.«
Sie waren gerade noch rechtzeitig eingetroffen, im Gegensatz zu Raupachs Sonderkommando, das sich erheblich verspätet hatte und unverrichteter Dinge abgezogen war.
Frau Drove, aufgeschreckt durch den von Nicolas verursachten Lärm, war an Corinnes Tür stehen geblieben und hatte ihrerseits die Polizei verständigt. Die Situation war ihr definitiv nicht geheuer gewesen. Kurz darauf waren schon Photini und Hilgers die Treppe hochgestürmt.
Als Corinne an ihr vorbeigetragen wurde und die Sanitäter ihr bedeuteten, dass sie noch am Leben war, ging Frau Drove in ihre Wohnung zurück und setzte sich mit einer Flasche Brandy auf die Couch. Sie hatte oft genug Mädchen in einem solchen Zustand gesehen. Es war eine verdammte Schande.
ALLEIN, OHNE UNLIEBSAME STÖRUNGEN, suchte Photini nach Hinweisen, die auf eine Hausgeburt hindeuteten. Die Heizung war voll aufgedreht, als stürbe es sich leichter, wenn man nicht fror.
Im Kleiderschrank befanden sich jede Menge Handtücher und OP-Tücher, eine umfangreiche Erste-Hilfe-Ausrüstung und eine Sauerstoffflasche mit einer winzigen Atemmaske. Die kurze Badewanne eignete sich gut zum Abstützen der Beine. Ein Küchengerät, das auf den ersten Blick wie ein Eierkocher aussah, erwies sich als Sterilisator, um Schnuller, Nuckelflaschen und dergleichen zu desinfizieren.
Außerdem gab es eine Sammlung von Glückwunschkarten in einem großen Umschlag. Da stand zum Beispiel: »An mein Kind: Wirst du ein Träumer sein und dennoch kühn? Verschlossene Tore aus den Angeln heben?« Unter dem Gedicht der Name der Autorin, Mascha Kalekó, und ein paar persönliche Zeilen des Absenders. Das Datum stammte vom Frühjahr.
Weitere Schreiben, sie galten unterschiedlichen Kindern, Mädchen wie Jungen, alle waren gefühlvoll und poetisch gehalten. Offenbar hatte Corinne die Glückwunschkarten aus der Säuglingsstation gestohlen, kurz bevor sie ihre Ausbildung abgebrochen hatte. Die Leute bekamen so viel Post. Fiel es da ins Gewicht, wenn hier und da ein Brief fehlte?
Das hieß, sie war schon vor einem halben Jahr zu dem Entschluss gelangt, die Geburt geheim zu halten. Ihr war klar gewesen, dass sie keine Karten mit Gedichten bekommen würde, keine Blumen. Nur ein nacktes, schreiendes Bündel Leben.
Das schon bald zu stören begann? Und auf keinen Fall laute Geräusche von sich geben durfte. Direkt nach der Geburt war das wahrscheinlich kein Problem, da schliefen viele Babys die meiste Zeit über oder bekamen die Brust. Nach den ersten Wochen änderte sich das.
Corinne konnte es mit einem Kissen getan haben. Das Zimmer war ordentlich aufgeräumt, das Bettzeug befand sich in dem ausziehbaren Sofa. Da hatte die Spurensicherung noch jede Menge zu tun.
Ein Abschiedsbrief war nirgends zu finden. Keine letzten Worte? Schuldzuweisungen, Bekenntnisse, Bitten an die Angehörigen, ihr zu verzeihen? Wer schwieg bis ins Grab, hatte nicht nur alle
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