Das geheime Kind
vorgenommen werden musste, störten die Herren der Schöpfung meistens. Widerstrebend packten sie dann ihre Camcorder ein und räumten das Feld.
»Anfangs machte sie sich wirklich gut als Kinderkrankenpflegerin. Sie war mit Leib und Seele dabei. Hat sich rührend um die Säuglinge gekümmert.«
Die Ärztin, kleiner als Photini, mit kurzen roten Haaren und einem Gesicht, das nach permanentem Schlafentzug aussah, wollte Corinne nicht in die Pfanne hauen und zuerst etwas Gutes über sie erzählen.
»Das ist nicht selbstverständlich, müssen Sie wissen. Bei vielen jungen Frauen lässt die Begeisterung schnell nach. Zwanzig Neugeborene in einem Raum machen gehörig Lärm, wenn sie nicht schlafen oder bei ihren Müttern sind. Das kann einen ganz schön fertigmachen. Aber Corinne machte das nichts aus, es prallte regelrecht an ihr ab. Sie lebte ein bisschen in ihrer eigenen Babywelt. Da war jedes Kind einfach nur süß und knuddelig und pflegebedürftig.«
»Was hat sich verändert?«
»Sie war mit ihrer Ausbildung ungefähr zur Hälfte fertig, da bekam sie plötzlich diese seltsamen Stimmungsschwankungen. Ich konnte mir das nicht erklären, niemand auf der Station. Corinne war immer so ausgeglichen, ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen. Manchmal wirkte sie geradezu lethargisch. Und dann fuhr sie bei dem geringsten Anlass aus der Haut und maulte jeden an, der ihr über den Weg lief.«
»Das soll ja vorkommen.« Photini dachte an Heide Thum. Auch kein Sonnenschein.
»Wenn eine Patientin einmal zu oft nach der Schwester klingelte, wenn ihr Dienst etwas länger dauerte, weil sich eine Kollegin verspätete, dauernd war sie schlecht gelaunt, es wurde zu einer richtigen Belastung. Ich meine, ich erwarte von den Mädchen nicht, dass sie hier mit einem Dauergrinsen herumlaufen, Sie wissen schon, so ein aufgesetzter Optimismus, als würde es darum gehen, Trinkgelder zu kassieren, schrecklich. Aber ich muss wissen, woran ich bei meinen Mitarbeiterinnen bin, wie belastbar sie sind. Bei Corinne war das irgendwann nicht mehr möglich.«
»Haben Sie mit ihr darüber geredet?«, fragte Hilgers. Er hörte aufmerksam zu.
»Ich hab’s versucht, unter vier Augen, versteht sich. Sie ging gar nicht darauf ein. Im Gegenteil, sie nahm das Gespräch zum Anlass, ihre Ausbildung abzubrechen, von jetzt auf gleich, ohne jede Begründung. Es wirkte fast so, als sei sie eingeschnappt, na ja, eher, als würde sie sich hinter ihrem Eingeschnapptsein verstecken.«
»Was wissen Sie über Corinne Bahlings Privatleben?« Hilgers nickte Photini, die schon auf die Uhr sah, beschwichtigend zu. »Gab es einen Freund?«
»An Beziehungsprobleme haben wir hier auf der Station natürlich auch gedacht. Aber sie hat nie etwas in dieser Richtung erzählt, wurde auch nie mit jemandem zusammen gesehen. Sie hat sich abgesondert.«
»Corinnes Mutter ist Hebamme. Wie hat sie reagiert, als ihre Tochter das Handtuch warf?«
»Ich kenne Frau Bahling. Sie arbeitet nicht für unsere Klinik. Das war Corinne wichtig, sie wollte nicht das Gefühl haben, unter Aufsicht zu stehen. Nachvollziehbar, trotzdem schade, wenn sich Mutter und Tochter nicht vertragen. Frau Bahling durfte auch nicht erfahren, dass Corinne bei uns aufgehört hat, das verlangte sie von mir. Sie ist volljährig, also hielt ich mich dran, obwohl sie mir noch wie ein Teenager vorkam.«
»Manche Teenager haben’s faustdick hinter den Ohren«, sagte Photini.
»Anzeichen von Drogenkonsum konnte ich bei ihr jedenfalls nicht bemerken«, sagte Doktor Fründt. »Darauf achte ich, wir hatten hier schon den einen oder anderen Fall.« Sie überlegte. »Nein, Corinne strotzte am Ende sogar vor Gesundheit.«
»Wir glauben, sie ist an den falschen Mann geraten.« Photini gab eine Kurzbeschreibung von Wintrich und Plavotic und deutete die Verwicklung in ein Verbrechen an.
»Gleich zwei?« Die Ärztin zeigte sich überrascht. »Meiner Ansicht nach macht sie sich gar nichts aus Männern. Ich habe Corinne als Teenager bezeichnet. Das war das falsche Wort. Für mich ist sie eher ein großes Kind.«
»Ein Kind?«
»Es tut brav, was man ihm sagt. Bis es irgendwann bockig wird und streikt und nicht realisiert, wie sehr es sich damit selber schadet.«
Photini nahm Numi aus der Plastiktüte. »Corinnes Schmusetier, sie hängt daran, noch immer. Was halten Sie davon?«
Doktor Fründt betrachtete den Eisbären, als erinnere er sie an etwas, woran sie mit Unbehagen zurückdachte. Sie schüttelte den Kopf.
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