Das geheime Leben der CeeCee Wilkes
ihr wie ein unbekanntes Land erstreckt. Erst Jahre später war sie in der Lage gewesen, den Tod ihrer Mutter zu verarbeiten und mit Optimismus nach vorne zu blicken – und eben diesen Optimismus hatte Tim so bewundert. Doch jetzt war nicht mehr viel davon übrig. Ihr überschaubares Leben, mit Ronnie im Coffeeshop arbeiten, mit Tim zusammen sein, vom College träumen – all das war verloren. Der einzige Unterschied zu damals war, dass sie für den Tod ihrer Mutter nicht verantwortlich war. Aber das hier hatte sie sich selbst eingebrockt.
Nach drei Tagen, an Thanksgiving, war CeeCee bereits vollkommen in das Baby vernarrt. Sie wusste genau, in welchem Moment sie begonnen hatte, es zu lieben. Naomi, Forrest und die Kinder hatten Freunde besucht, und sie war mit der Kleinen zum ersten Mal allein. Sie lagen zusammen auf dem Bett, CeeCee musterte das Gesicht, suchte nach einer Ähnlichkeit mit Genevieve. Vorsichtig streichelte sie die kleinen Arme, und plötzlich schloss sich ein perfektes Händchen um ihren Finger. Blaugraue Augen sahen sie an. Lange. Eine Minute. Zwei Minuten. Vielleicht länger. Jedenfalls lange genug, dass CeeCees Herz dahinschmolz.
“Ach, Gänseblümchen”, flüsterte sie und küsste die winzige Hand. War der Mutterinstinkt tatsächlich so stark, dass sogar eine Sechzehnjährige, die niemals schwanger gewesen war, ihn empfinden konnte?
Sie beide hatten keine Mutter. Sie beide waren allein und mussten versuchen, irgendwie zu überleben.
Doch im Gegensatz zu CeeCee hatte das Kind noch einen Vater.
Nachts überlegte CeeCee immer wieder, wie sie das Baby zurückbringen könnte. Mit Naomi oder Forrest konnte sie über dieses Thema nicht reden. Sie hatte eine vage Ahnung, wo der Gouverneur wohnte, weil sie während eines Schulausflugs einmal an seinem Haus vorbeigefahren war. Sie könnte spät nachts das Kind auf die Türschwelle legen, klingeln und wegrennen. Oder besser nicht klingeln, weil sie dann vielleicht nicht schnell genug ihr Auto erreichen würde. Andererseits war es zu kalt, um das Kind lange im Freien liegen zu lassen. Sie konnte natürlich auch anrufen, nachdem sie weggefahren war. In ihrem Kopf drehte sich alles vor lauter Ideen.
Aber dann dachte sie an Tim und Marty und Andie. Wenn sie das Baby wirklich vor dem Haus ablegte, was würde dann geschehen? Vielleicht war Andie inzwischen ja schon frei, doch falls Tim noch immer verhandelte, brachte sie ihn damit vielleicht in noch größere Schwierigkeiten.
Am Samstagmorgen, während beide Babys schliefen und Naomi ihrer Tochter Unterricht im Lesen gab, saß CeeCee mit Forrest beim Frühstück in der Küche.
“Morgen sollte ich eigentlich von meiner Reise nach Philadelphia zurückkehren. Ich muss meiner Mitbewohnerin sagen, dass ich nicht komme.”
Forrest musterte sie über den Rand seines Kaffeebechers. “Unser Telefon kannst du nicht benutzen.”
“Wenn ich ihr nicht Bescheid sage, ruft sie die Polizei. Sie wird mich als vermisst melden und dann werden sie nach mir suchen.”
Forrest legte den Kopf in den Nacken und starrte nachdenklich an die Decke. “Gut”, sagte er schließlich. “Ich fahre dich heute Abend zu einer Telefonzelle in New Bern. Von dort aus kannst du sie anrufen. Aber du solltest dir vorher genau zurechtlegen, was du sagen willst. Sei vorsichtig.”
Die Fahrt nach New Bern dauerte etwas länger als eine halbe Stunde. Die Erkenntnis, dass Rettung für Genevieve nicht weit gewesen war, traf CeeCee mit schmerzhafter Wucht. Forrest schien ihr Unbehagen zu bemerken, denn er fragte: “Was denkst du?”
“Wie nah Hilfe für die Mutter war, ohne dass ich es wusste. Und dass ich ihr zuerst die Wehen nicht abgenommen habe. Und …”
“Was geschehen ist, ist geschehen.” Forrest bog in eine Tankstelle ein, hielt kurz vor der Telefonzelle und gab ihr eine Handvoll Kleingeld. “Mach nicht so lange.”
Sie stieg aus, betrat die Telefonzelle, in der es nach Urin roch, und brauchte einen Moment, bis sie sich an ihre eigene Telefonnummer erinnerte. Es schien Monate her zu sein, dass sie Chapel Hill verlassen hatte.
Ronnie nahm beim zweiten Klingeln ab. “Hallo?”
“Ronnie, hier ist CeeCee.”
“Oh mein Gott, CeeCee. Ich habe so auf deinen Anruf gewartet. Ist das nicht einfach unglaublich?”
Darauf war sie nicht vorbereitet. “Was ist unglaublich?”
“Hast du denn nichts davon gehört?”
“Wovon?”
“Du musst doch Nachrichten gehört haben. Es ist … Gott, du wirst ausflippen.”
“Was
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