Das geheime Leben des László Graf Dracula
stehen. Wir dürfen keine Hypothese außer acht lassen. Alles andere wäre reine... Gefühlsverwirrung.«
»Können wir endlich zum Inhalt des Briefes kommen?«
»Natürlich. Als erstes möchte ich betonen, daß ich es für völlig ungerecht halte, Sie für den Tod der letzten Opfer verantwortlich zu machen.«
»Aber welche Opfer?« brach es klagend aus ihm heraus. »Das ist doch der Punkt! Wer ist das dritte?«
»Stimmt, wir wissen nur von zweien, Estelle und Theresa. Aber in den vergangenen drei Monaten sind so viele dahingerafft worden. Vielleicht ist es uns entgangen, wenn jemand darunter nicht an einer natürlichen Ursache verschieden ist.«
»Großer Gott«, stöhnte er.
Ich ging zu dem gefährlichsten Teil des Briefes über. »Dann wäre da noch der letzte Abschnitt«, sagte ich. »Er deutet vage auf die Identität des Täters hin, finden Sie nicht auch?«
»Allerdings.« Kraus blickte mich unverwandt an.
»Er weist darauf hin, daß es sich um eine Person von Rang handelt. Dies bestätigt unseren früheren Schluß, daß der Schreiber allem Anschein zum Trotz ein gebildeter Mann ist.«
»Falls der Schreiber denn der Mörder sein sollte«, erinnerte mich Kraus gelassen.
Er hatte wieder die Kontrolle über das Gespräch gewonnen und trieb mich nun sachgerecht in die Enge, ohne falsche Hast. Ich fühlte, wie mein Herz in diesem kritischen Augenblick zu klopfen begann, und ich rief mir in Erinnerung, daß es für das Wild immer das beste war, sich beim Anpirschen des Jägers reglos zu verhalten und auf keinen Fall seine Deckung zu verlassen. Nur jetzt nicht kopfscheu werden, sagte ich mir.
»Dann ist da noch diese Anspielung mit dem Heiligen«, setzte ich hinzu.
»Vielleicht der interessanteste Aspekt von allen.«
»›Die Leute meinen, ich wäre ein Heiliger, aber in Wahrheit bin ich der Inbegriff des Bösen‹«, zitierte er.
»Das könnte fast ich selbst sein!«
»Fast?«
»Abgesehen von dem Nachsatz ›der Inbegriff des Bösen‹.«
»Selbstverständlich«, sagte er schnell, mit übertriebenem Eifer.
Ich zuckte schmunzelnd die Achseln. »Du lieber Himmel, das klingt ja wirklich ganz nach mir!«
»Haben Sie den Brief geschrieben, Graf?«
»Nein!«
Ich warf ihm das Wort hin wie einen Fehdehandschuh. Wieviel Bedeutung kann man in den Klang einer einzigen kleinen Silbe legen? Ich zumindest hörte hier zugleich humorvolle Toleranz, unverbrüchliches Selbstvertrauen und aristokratische Überlegenheit heraus.
Es war der Wendepunkt des Gesprächs. Ich sah, wie sich die Schultern des Inspektors lockerten, und mir wurde klar, daß er mich nie als den Täter hatte sehen wollen.
»Diese... hm... heiligmäßige Aura dichtet das Volk mir an«, sagte ich, absichtlich zögernd. »Für aufgeklärte Menschen wie Sie und mich ist das natürlich lächerlich.«
»Aber ich mußte Ihnen die Frage stellen«, entgegnete er. »Sie werden sicher verstehen, daß es meine Pflicht war...«
Ich winkte großmütig ab.
»Und was Heilige betrifft«, fuhr ich mit einem abfälligen Lächeln fort, »so bin ich sicher, daß es da glaubwürdigere Exemplare gibt als mich.«
»Der Schreiber scheint einen ausgeprägten Hang zur Übertreibung zu haben.«
»Genau.«
»Es könnte sich im Prinzip um jedweden Familienvater handeln, der von seinen Angehörigen vergöttert wird.«
»Sozialer Status, Heiligkeit... all diese Dinge sind letzten Endes relativ«, gab ich zu bedenken.
Alles, was Kraus brauchte, war ein kleiner Anstoß, und er wäre gottfroh, woanders nach dem Täter suchen zu können. Offensichtlich war ihm unbehaglich zumute. Die Sache war längst noch nicht bereinigt, aber ich hatte ihn schon soweit, daß sein Mißtrauen mir gegenüber ihm langsam peinlich wurde. Er ist sehr aufrichtig. Ich überlegte, ob er sich später wohl schämen würde, mich so gröblich beleidigt zu haben. Es enttäuschte mich ein wenig, daß selbst Inspektor Kraus, der gewiefte Kriminologe, der Vernunftmensch, sich nicht von den Tatsachen, sondern von seinen Vorurteilen hatte leiten lassen. Auf wen sonst konnte der Brief denn schließlich hinweisen, wenn nicht auf mich?
Diese Einsicht würde Kraus am Ende kommen, wenn ich ihm Zeit ließ, seine Gedanken zu ordnen. Es war weitaus besser, wenn er von selbst darauf kam.
»Nun denn«, sagte ich, mich erhebend, »ich darf Ihre wertvolle Zeit nicht noch länger in Anspruch nehmen.«
»Einen Augenblick, Graf.«
Ich drehte mich um, mit der Hand an der Türklinke. »Hatten Sie den gleichen
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