Das geheime Leben des László Graf Dracula
in das Badezimmer sehen, aber mit Hilfe des sorgfältig arrangierten und unauffällig aufgestellten Spiegels konnte ich einen kleinen Teil des Zimmers überblicken. Es waren endlose Wanderungen durch Gänge, vor und zurück, die gewundene Schloßtreppe hinauf und hinunter, um den Spiegel richtig einzustellen, aber als die Hälfte ihres Aufenthalts dort herum war, hatte ich die Technik wahrhaftig perfektioniert. Mein gesunder Sinn für Schicklichkeit hielt mich davon ab, das Teleskop auch an meiner Tante auszuprobieren. Sie war immerhin die Schwester meiner Mutter, aber das war eigentlich nicht der wahre Grund. Tatsache ist, daß sie mich nicht interessierte.
Aber in jenem Sommer war ich ganz begierig, einen Blick auf Nicole werfen zu können. Das Bild, das ich schließlich erhielt, war verschwommen, ungefähr so wie eine Skizze. Aber ich erinnere mich noch genau daran, was für ein Schock es war und wie mein Mund trocken und meine Knie weich wurden, so daß ich mich kaum auf den Beinen halten konnte, als ich sie zum erstenmal erspähte. Sie war mädchenhaft schlank, mit runden Hüften und einem Hintern, der künftige Üppigkeit versprach. Ihre Brüste waren nur Knospen, aber für diesen Teil ihres Körpers schien sie sich sehr zu interessieren, denn sie hielt sie immer hoch und sah sich in dem großen Spiegel neben der Badewanne erst von der einen Seite und dann von der anderen an. Ich war von dem winzigen Dreieck aus dunklem Haar unter ihrem Bauch hingerissen und bemühte mich ohne Erfolg, dieses Geheimnis schärfer ins Bild zu bringen.
Wann immer für Nicole das Bad hergerichtet wurde, fand ich einen Grund, mich davonzustehlen. Damals akzeptierte man bereits, daß das einsame Studieren ein Teil meines Wesens war. Im Verlauf der Woche brachte ich mein Teleskop dazu, sich weniger auf die einzelnen Körperteile zu konzentrieren als vielmehr auf Nicole und ihr geheimes Leben, wenn sie sich allein glaubte, und so stellte ich meinen Spiegel dementsprechend ein. Ich beobachtete sie, wenn sie, in gespielter enger Umarmung, tanzte oder kritisch ihr eigenes Bild betrachtete, wobei sie ein ständig größer werdendes Repertoire an Mimik und Gesten einer femme fatale übte oder zärtlich der kurvenreichen Oberfläche ihres sich rasch entwickelnden Körpers folgte. Ich hätte ein schlechtes Gewissen haben müssen, aber das hatte ich nicht. Ich liebte sie. Wenn ich sie dann später am Nachmittag beim Tee traf und wir uns wie gewöhnlich unterhielten, hatte unser Gespräch wegen meiner geheimen Beziehung zu ihrem geheimen Selbst eine tiefere Bedeutung.
»Optischer Mechanismus.« Lothar hatte blindlings einen Pfeil in die Luft geschossen, und er war mitten im Ziel gelandet. Nicole hat nie gewußt, daß ich sie beobachte.
So lange ich noch in der Stimmung bin, Geständnisse abzulegen, muß ich unbedingt an Gregor schreiben. Alles kann ich ihm nicht erzählen, denn seit dem Priesterseminar ist er etwas engstirnig geworden. Aber er wird zwischen den Zeilen lesen. Und wenn ich an Gregor schreibe, muß ich vorher einen Brief an Georg und Elisabeth schreiben, da Gregor die erstbeste Gelegenheit ergreifen wird, sie mit meinen Neuigkeiten auf dem Schloß zu besuchen. Gestern traf im Hôpital ein Brief von Elisabeth ein, in dem sie mich wegen meiner Schreibfaulheit schalt. Deutschlands Kriegssucht gegen das Kaiserreich beschäftigt sie sehr, und sie fürchten, daß es einen Krieg geben wird –
wenigstens Elisabeth befürchtet es; Georg wird die Aussicht auf eine ordentliche Schlacht genießen, da bin ich mir ganz sicher. Mir war bislang nicht einmal bewußt, daß es eine Krise gibt, was nur beweist, wie sehr ich alle weltlichen Dinge vernachlässigt habe. Elisabeth schreibt: »Ich sage: ›Pfui dem Bismarck und seinen preußischen Grenadieren!‹« Wie einfach das Leben wäre, wenn Frauen die Welt regieren würden! Sie ist bescheiden und gut – zu gut für Georg, denn ich glaube, er weiß es gar nicht richtig zu schätzen, was für eine feine Frau er hat.
Aber diese Briefe müssen bis später warten. Ich kann es nicht länger hinausschieben. Ich muß jetzt ins Hôpital gehen und mich Stacia stellen, was immer sie für mich bereithält.
ABEND
Die Sonne schien, und ich beeilte mich, weil es schon spät war. Ich muß zugeben, daß ich etwas nervös war, als ich im Salpêtrière ankam. Ich entschloß mich, durch das Westtor zu gehen, von wo aus man durch den Garten ins Hauptgebäude gelangt. Am Haupttor ist nachts ein Wächter,
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