Das geheime Leben des László Graf Dracula
ich nicht darauf vorbereitet, Stacia hinter der gefühllosen Madame Verdun durch die Tür hereinkommen zu sehen. Stacia war eine völlig andere Frau als jene selbstbewußte Person, mit der ich eine schicksalhafte Nacht verbracht hatte.
Beide hatten wir dafür bezahlt. Sie trug ein einfaches weißes Baumwollkleid ohne jede Verzierung, das wie eine schlaffe Hülse an ihr herunterhing. Ihre Augen waren glanzlos, schienen nichts wahrzunehmen, während Madame Verdun sie an der Hand zu dem Stuhl führte, der so entsetzlich einsam vor uns stand. Ihr goldenes Haar hing wie bei einem jungen Mädchen lose über ihre Schultern. Alles Leben schien aus ihr herausgeflossen. Sie saß nach vorn zusammengesunken da, mit auf den Knien gefalteten Händen und gebeugtem Kopf, und bot ein Bild der Hoffnungslosigkeit.
Mir blutete das Herz, und ich haßte mich, weil sie meinetwegen so tief gesunken war. Ich brauchte mich gar nicht umzudrehen, ich wußte auch so, daß Rolands Augen von hinten auf meinen Kopf gerichtet waren, ich konnte es fühlen. In einem Anfall von Wahnsinn wollte ich vor dem versammelten Auditorium meine wollüstigen Handlungen beichten, aber statt dessen tröstete ich mich mit dem Gedanken (wie die moralische Ordnung dieses neuen Mannes auf den Kopf gestellt ist!), daß sich mein gerechter Henker schon in diesem Augenblick im Gewebe meines Körpers einnistete.
Neben mir saß Nicole, die von dem sich ihr bietenden Bild völlig gefangengenommen war. Ihr Mund war leicht geöffnet, ihre Atmung beschleunigt. Ich war überrascht, daß sie für die junge Frau, deren Leben so völlig anders war als ihr eigenes, eine so starke Sympathie empfinden konnte.
Ich fragte mich, ob es für sie nur ein Schauspiel, eine wundervolle neue dramatische Form war, oder ob Nicole wirklich begriff, was es bedeutete, Stacia zu sein. Aber wie sollte sie fähig sein, die ganze schmutzige Realität dieser Situation zu erkennen? Mir lief es eiskalt den Rücken hinunter bei dem Gedanken, daß sie auch nur einen Hauch der Wahrheit erahnen könnte.
Lothar konnte jetzt an der Identität der Frau vor uns keinen Zweifel mehr hegen. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er sich nach vorn beugte, um meine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Ich ignorierte ihn. Wenn ich seinen Blick erwiderte, würde das heißen, daß ich mich durch meine Bereitschaft, Stacias wahre Identität in dem Haus geheimzuhalten, zu seinem Komplizen machte.
Wenn ich das tat, wer weiß, welche anderen Verdächtigungen – Ausgeburten von Lothars perverser Phantasie – ich dadurch ebenfalls bestätigen würde? Aber er starrte immer weiter in meine Richtung, und am Ende gab ich erschöpft nach und sah ihn ebenfalls an. Er grinste bedeutsam, als wollte er sagen: »Du schlauer Teufel, László.« Anscheinend billigte er mein Verhalten völlig, aber ich fürchte, daß er die Situation viel zu interessant findet, um es dabei bewenden zu lassen.
Ich drehte mich demonstrativ weg. Professor Charcot war hinter dem Vortragspult hervorgekommen und stand nun dicht hinter seinem Medium.
»Stacia«, sagte er leise.
Langsam, als würde sie diese Bewegung große Mühe kosten, hob Stacia den Kopf. Als ihre Augen zu sehen waren, fürchtete ich – hoffte ich –, daß sie auf mich gerichtet sein würden und daß ich durch ihren stummen, anschuldigenden Blick ausgewählt würde. Aber wir existierten gar nicht für sie.
»Ja«, seufzte sie und sammelte mit dem Ton Konzentration.
»Würden Sie mir sagen, womit Sie sich in den vergangenen drei Tagen beschäftigt haben?«
»Ich verbringe meine Zeit mit Nähen und Stricken. Ich gehe im Garten spazieren. Ich beantworte die Fragen der Ärzte.«
»Und das ist alles... nichts Ungewöhnliches, keine ungewöhnlichen Ereignisse, von denen Sie uns erzählen könnten?«
»Ich lag wegen meiner Arme im Bett.«
»Und was ist mit Ihren Armen passiert?«
»Ich weiß nicht.« Sie war teilnahmslos, als wäre ihr ihre Existenz völlig gleichgültig. Sie war von dem Blutverlust noch immer so blaß, daß sie aus dem Grab hätte auferstanden sein können.
»Nichts... Gewalttätiges?« fragte Charcot, das Wort herausschleudernd.
»Gewalttätig?« wiederholte sie. Wenigstens besaß er jetzt ihre Aufmerksamkeit. Er wartete, bis sie über diese Möglichkeit nachgedacht hatte.
»Nein«, sagte sie und schüttelte traurig den Kopf.
»Aber Sie haben Wunden an Ihren Armen.«
»Wenn Sie es sagen.«
»Wissen Sie, wie sie da hingekommen sind?«
»Nein.«
»An Ihren Armen
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