Das geheime Leben des László Graf Dracula
befürchtet dort, daß es bald Krieg geben wird. Das scheint alles so weit entfernt, in einer anderen Welt.
Ich muß Stacias Nachricht zu einem Ball zusammengeknüllt und mit aller Kraft von mir geschleudert haben, denn er war in die hinterste Ecke des Zimmers gerollt. Dort entdeckte ich auch, daß die Spuren des früheren Zimmermieters nur unvollständig entfernt worden waren. Unten, in Kniehöhe, waren Flecken an der Wand, die nur getrocknetes Blut sein konnten, und noch tiefer fand ich ein verschrumpftes gelbes Etwas, das ich für einen Knochensplitter des Gehirns mit dem angrenzenden Gewebe hielt. Aus der Richtung des Schusses zu schließen, hatte der Mann auf diesem Stuhl an seinem Schreibtisch gesessen, genau wo ich jetzt sitze, hatte im letzten Augenblick seines Lebens aus diesem Fenster gesehen. Vielleicht habe ich Madame Thébaulds Neugier doch falsch eingeschätzt. Jetzt frage ich mich, ob sie nicht eher von beschützender Art ist, aus Sorge, daß sich das traurige Schicksal ihres früheren Mieters in diesem Zimmer nicht wiederholt. Aber ich beabsichtige aus dem Leben, das mir noch bleibt, das Beste zu machen. Sind wir letzten Endes nicht alle zum Tode verurteilt?
Ich möchte schlafen, der Müdigkeit nachgeben, so daß ich meiner Pflicht nicht nachkommen kann. Wenn ich mich hinlege, wenn ich auch nur die Augen zumache, werde ich bis morgen schlafen, und dann wird es für mich zu spät sein, Stacia zu besuchen. Denn das habe ich zu tun beschlossen. Ich muß es wiedergutmachen. Sie hat mir unrecht getan, indem sie mich mit dieser fauligen Krankheit angesteckt hat. (Bis jetzt habe ich noch keinen Schanker gefunden, aber man muß ihm Zeit lassen. Ich bin wachsam, um jeden Funken Hoffnung auszulöschen, der in mir aufkeimt, denn sonst täusche ich mich am Ende selbst und lebe in einem Narrenparadies.) Stacia hätte mich warnen können. Sie hätte nicht an diesen Ort gehen dürfen, denn sie wußte, daß sie dort die Krankheit unweigerlich weitergeben würde. Aber sie muß von einem Dämon besessen gewesen sein, daß sie sich in jener Nacht verkauft hat. Obwohl ich es nur ungern zugebe, hatte Lothar in diesem Punkt recht: Ich muß zu ihr gehen. Wie der Meister selbst sagte: »Wir werden sehen, was wir tun können.«
2. JUNI 1866, FRÜH AM MORGEN
Ich habe die letzte Seite gelesen, die ich geschrieben habe, bevor ich zu Stacia gegangen bin. Welch edle Gedanken! Wer war der Mann, der diese Worte geschrieben hat? Ich erkenne ihn nicht wieder. Wer war dieser Narr, der für die Ideale des Muts, der Standhaftigkeit und der Selbstverleugnung eingetreten ist; der sich aufgemacht hat, um Stacia aus ihrer Verzweiflung zu erretten, vor dem Dämon, von dem sie besessen war – dieser Mann, der nicht erkannte, daß der Dämon in ihm selbst lauerte?
Zu dieser Gelegenheit zog ich meinen prächtigen neuen Anzug an. Sicherlich hätte eine solche Eitelkeit etwas von der wahren Natur meiner Mission in meinem Bewußtsein zum Klingen bringen müssen? Nicht im geringsten. Anstatt zuzugeben, daß ich sie blenden wollte, daß ich den Grafen spielen wollte!, redete ich mir ein, daß es besser wäre, wenn ich mich ihr nicht in meiner ärztlichen Aufmachung präsentierte, sondern als Privatmann zu ihr kam. Ich wartete bis neun Uhr – das war die Zeit, die sie mir in ihrer Nachricht genannt hatte –, denn ich nahm an, daß sie mit dem Nachtwächter im Hôpital eine Abmachung getroffen hatte und erst ziemlich spät dort weg konnte. Ich wanderte, getrieben von hehren Absichten, erfüllt von der Wärme einer köstlichen altruistischen Glut, durch die Straßen. Heuchler!
Die Adresse, die sie mir gegeben hatte, lag nicht weit von meiner Wohnung entfernt, aber welch ein Unterschied selbst zu meiner bescheidenen Umgebung!
Verwahrloste, zerlumpte Kinder durchwühlten Abfallhaufen und bettelten mich beim Anblick meiner Kleidung mit einer solchen Heftigkeit um Münzen an, die geradezu impertinent war. Überall lagen Kothaufen, und in abgestandenen Tümpeln verrottete Müll. Mehrmals mußte ich von dem schmalen Gehsteig herunter auf die Straße treten, um Betrunkene vorbeizulassen, die an mir vorbeitaumelten. Prostituierte der schlimmsten Sorte zischten mir aus dunklen Torwegen Obszönitäten zu.
Zum Glück fand ich den Ort, ohne einen Passanten nach dem Weg fragen zu müssen. Es war ein großes, verfallenes Gebäude ohne eine Concierge. Ich suchte mir den Weg über den Hof und stieg die Treppe hinauf, vorbei an den allzu intimen
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