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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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auf Annies Briefe starren, sie verstehe nichts. Abends gehe sie ins Bett und hoffe auf ein Wunder, aber morgens sei es dasselbe, sie sitze ratlos vor dem Papier.
    Sie hatte es nie jemandem gesagt. Auch nicht ihrem Mann. Auch nicht Annie. Sie hatte immer darauf geachtet, dass sie es nicht merkten.
    Annie, allein im Warteraum meines Vaters, klein auf dem großen schwarzen Sessel, ihr Asthma als einzigen Begleiter. Jetzt verstand ich diese merkwürdige Einsamkeit besser.
    Ihre Mutter weinte, sie schnäuzte sich immer wieder. Sogar an dem Tag, als Annie aus der Schule gekommen war und geschluchzt hatte, Mademoiselle E. habe ihr erklärt, dass alle Mütter, die ihre Kinder lieben, ihnen Geschichten vorlesen, sogar da hatte sie sich aus der Affäre gezogen.
    »Ich lese dir keine Geschichten vor ... das stimmt ... Aber das hat nichts mit Liebe zu tun ... Liebe ist ... etwas viel Geheimnisvolleres ... Bei der Liebe darf man nichts fragen, nichts verlangen. Versuche nie, dich von jemandem so lieben zu lassen, wie du willst, dass er dich liebt. Das ist nicht die richtige Liebe. Jeder liebt auf seine Art, und meine Art ist vielleicht, dir keine Geschichten vorzulesen, aber dir alle Kleider zu nähen, die ich kann, all die Mäntel, Röcke, Tücher, über die du dich freust … Sind wir nicht glücklich so? Möchtest du lieber eine andere Mutter? Sag, Annie, möchtest du lieber eine andere Mutter?«
    Von diesem Tag an hatte Annie ihr nie mehr Vorwürfe gemacht, und ihre Mutter dachte, sie hätte das Problem für immer gelöst. Auch als Annie ankündigte, dass sie einige Monate mit Madame M. verreisen wolle, hatte sie sich deshalb weiter keine Sorgen gemacht. Ihr Mann schimpfte
zwar, er wolle nichts mehr von dieser Tochter hören, die sie für eine Bürgerdame verließ, doch sie wusste, dass er ihre Briefe lesen und ihr schreiben würde. Er liebte Annie zu sehr, um seine Drohungen wahrzumachen.
    Als aber die erste Karte kam, saß sie in der Falle. Ihr Mann war verhaftet worden, und sie hatte niemanden mehr, der ihr helfen konnte. Es dauerte mehrere Postkarten, bis sie sich dazu durchrang, mir zu gestehen, dass sie nicht lesen konnte.
    Hatte sie sich eingeredet, dass ich ebenso vertrauenswürdig sei wie meine Mutter, von der sie hunderte Meter Stoff gekauft hatte?
    Sie hätte recht gehabt. Ich habe ihr Geheimnis nie verraten. Ich habe immer gedacht, dass die Geheimnisse mit denen sterben müssen, die sie getragen haben.

    Sie denken sicher, dass ich meine eigenen Überzeugungen verrate, weil ich es Ihnen jetzt schreibe, aber Ihnen muss ich alles sagen ...

»… aber Ihnen muss ich alles sagen ... «
    Während ich die letzten Sätze las, überkam mich ein äußerst unangenehmes Gefühl. Der Autor dieser Briefe schien sich also doch an jemanden zu richten.
    Aber an wen, verdammt noch mal?
    In einem Wutanfall ließ ich die Blätter durchs Zimmer segeln.

    Ich war totenblass, als ich vor dem Spiegel stand. Ich sah, wie ich die Augen schloss, und hörte mich sagen: »Reg dich nicht auf. Das ist alles nur ein Roman ...«
    Aber als ich wieder ruhiger wurde, merkte ich, dass ich Angst hatte.

    Warum hatte ich damals versucht, den Lauf der Dinge zu ändern? Ich ging in Annies winzigem Zimmer hin und her und fühlte mich entsetzlich schuldig. Alles war meine Schuld. Warum hatte ich ihrer Mutter diesen Brief nicht vorgelesen?
    In diesem Zimmer, das zu klein war für meine Gewissensbisse, konnte ich es Annie nicht gestehen. Ich hatte sie gerade erst wiedergefunden, ich hätte es nicht ertragen, sie erneut zu verlieren, und auch nicht, dass sie mir böse wäre.
    Selbst ihre kurze Abwesenheit wegen dieser Schlüssel machte mich krank.
    Außerdem hätte ich das Geheimnis ihrer Mutter offenbaren müssen, weil mich Annie natürlich gefragt hätte, weshalb ich ihr die Briefe vorlesen sollte.
    Ich wusste keinen Ausweg.
    Ich wusch unsere Tassen und den Teller ab, sah mir die wenigen Bücher auf dem Regal an und rückte das Kreuz über ihrem Bett zurecht. »Viel Oktoberregen, für die Felder ein Segen«: der Spruch dieses 4. Oktober 1943. Ich blätterte zerstreut in dem Kalender, um zu sehen, was die kommenden Tage uns bringen würden.
    Das alles tat ich, um zu verhindern, was schließlich doch geschah: Ich öffnete ihre Kommode. Männerkleidung, sicher die ihres schönen Soldaten. Und ihre. Drei Kleider, zwei Pullover, zu dünn für diese Jahreszeit, zusammengerollte Strümpfe und hässliche Unterwäsche.

    Ich hatte so ein Verlangen nach ihrem

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