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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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durchaus erhalten hatte.

    Ich sehe die alte Frau noch vor mir, wie sie besorgt und ganz durchnässt, einen großen Regenschirm an sich gepresst, in meiner Tür stand. An jenem Tag schüttete es wie aus Eimern. Annies Abreise mit Madame M. war schon mehrere Monate her. Ihre Mutter reichte mir den Brief. Ich erkannte Annies Schrift sofort. In dem Umschlag steckten mehrere beidseitig eng beschriebene Blätter, als hätte sie gefürchtet, nicht genug Papier zu haben.
    Ihre Mutter war voller Angst.
    »So ein langer Brief, da stimmt doch was nicht, es muss etwas passiert sein!«
    »Zu kurz oder zu lang, für eine Mutter ist es immer ein schlechtes Zeichen«, hatte ich ihr in einem Ton geantwortet, der fröhlich klingen sollte. Aber die Länge des Briefes erstaunte mich auch. Bis dahin hatte Annie immer nur kurze Postkarten geschickt.
    Beim Lesen verzerrte sich mein Gesicht.
    »Was ist los? Louis! Sag mir, was los ist!«
    Ich löste die Augen vom Brief und begegnete ihrem Blick, eine Sekunde, und es war geschehen. Ich log.
    »Nichts. Alles in Ordnung. Es ist alles in Ordnung. Aber ich bin spät dran, entschuldigen Sie. Gehen Sie nach Hause, ich komme heute Abend vorbei und lese Ihnen den Brief vor.«
    Dann lief ich mit dem Brief in der Hand in mein Zimmer.
Ihn noch einmal lesen, allein. Verstehen, wie das alles hatte geschehen können.
    Am nächsten Tag war ich pünktlich, und alles verlief so, wie Madame M. es erhofft hatte. Ich wurde schwanger ›mit der Effizienz einer Jungfrau‹ ... In wenigen Tagen werde ich entbinden. Es wird Louis heißen, wenn es ein Junge ist, Louise, wenn es ein Mädchen ist ... Ich habe Angst, Angst zu sterben und Euch nicht wiederzusehen. Ich liebe Euch. Ich hoffe, dass Ihr mir verzeiht.
    Das waren ungefähr die einzigen Sätze in dem Brief, die sie in ihrem mündlichen Bericht nicht wiederholt hatte.

    Nachdem ich den Brief in ein Heft übertragen hatte, um eine Spur davon zu bewahren, setzte ich mich unter das Vordach und sah zu, wie die Seiten unter dem Regen weich wurden. Ich hatte beschlossen, ihrer Mutter den Brief nicht vorzulesen. Es war zu brutal für sie, die so schwach war. Annie schwanger mit dem Kind einer anderen, das würde sie nicht ertragen. Nicht einmal ich verstand, wie es möglich war, dass sie sich von diesem Kerl hatte schwängern lassen.
    Während ich zusah, wie die Tinte zerfloss, versuchte ich mein schlechtes Gewissen zu beruhigen, indem ich mir immer wieder sagte, dass man oft die Geständnisse bereut, die man unter dem Druck der Angst macht, und dass Annie froh wäre zu wissen, was ich tat. Außerdem zerstörte ich die Wahrheit nicht, ich schob sie nur auf. Wenn Annie nach der Rückkehr von ihrer Reise immer noch wollte, dass ihre Mutter wisse, was geschehen war, dann würde sie es ihr
sagen. In diesem Moment glaubte ich aufrichtig, für alle das Beste zu tun.
    Der Brief war unleserlich. Die Tinte zu großen Flecken zerflossen. Immer wieder entschuldigte ich mich bei Annies Mutter, ich hätte den Brief auf meinem Schreibtisch liegen lassen und nicht darauf geachtet, dass das Fenster während des Regens offen stand, ich sei untröstlich.
    Ich musste mir einen anderen Inhalt ausdenken, erzählte vom Krieg, der gerade ausgebrochen war, dem Durcheinander an der Front, von all den Dingen, die Annie zu meinem Erstaunen in ihrem Brief nicht erwähnte. Ich sagte mir, dass sie mit dem, was sie erlebte, genug Sorgen hatte. Außerdem war die angespannte Lage im Süden vielleicht weniger zu spüren als hier.
    Ihre Mutter fand meinen Bericht, gemessen an der Länge des Briefes, ziemlich kurz. Ich erklärte ihr, dass einem die Dinge mündlich immer kürzer vorkämen als schriftlich. Ich schämte mich, ihre Schwäche auszunutzen, aber ich wusste, dass sie nicht widersprechen würde.
    Ich hatte recht: Sie nickte folgsam und wagte keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Sie hielt meine verlogene Regel für eine goldene Regel und stellte nur glücklich fest, dass ihr kleines Mädchen ein bisschen von seiner Redseligkeit wiedergefunden habe.

    Ich habe sie nie gefragt, warum sie ausgerechnet mich auswählte, um die Briefe ihrer Tochter zu lesen. Sah sie in mir etwa den treuen Verliebten und Verbündeten?
    Unumwunden offenbarte sie mir die nackte Wahrheit.
    »Ich kann nicht lesen.«
    Sie hätte mich nicht mit gleichgültigerer Stimme nach der Uhrzeit fragen können. Dann aber, zusammengekrümmt
auf dem Hocker in ihrem Flur, flüsterte sie, es sei eine wahre Folter. Sie könne stundenlang

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