Das geheime Prinzip der Liebe
M. ließ sich nicht aus der Fassung bringen. Sie log sehr gut, und das hätte mich misstrauisch machen müssen. Mein Vater fragte mich, ob ich diese Frau wirklich für die Zeit ihrer Schwangerschaft begleiten wolle.
Ich sagte ja.
Daraufhin befahl er Madame M., ohne aus seinem Sessel aufzustehen, sofort das Haus zu verlassen.
Die letzten Tage waren unerträglich. Vater beschuldigte mich, meine Eltern für ein schwangeres Bürgerfräulein im Stich zu lassen. Widerliche Geldsäcke. Das war sein neuester Lieblingsspruch. Wann immer ich unglücklicherweise seinen Blick kreuzte, forderte er mich auf, ihn nicht anzustarren. Wann immer ich mir beim Essen kein zweites Mal auftat, sagte er: ›Mademoiselle ist wählerisch, seit sie mit der Herzogin speist.‹ Irgendwann hat es mir gereicht und ich bin wütend geworden. Ich habe ihm gesagt, er soll nicht übertreiben, ich würde sie nicht ›verlassen‹, sie hätten vierzig Jahre ohne mich existiert, da würden sie auch lächerliche fünf Monate überleben, außerdem würden wir uns schreiben, es sei schließlich nicht das Ende der Welt …
Ich werde mir nie verzeihen, dass ich so mit ihnen gesprochen habe. Ich hätte sie nie verlassen dürfen, aber ich konnte ja nicht wissen … Ich dachte bloß daran, was ich in Paris alles entdecken würde. Wenn es nur nach mir gegangen wäre, wären wir sogar noch viel früher losgefahren. Nur Maman tat mir so leid. Ich konnte sie einfach nicht beruhigen. Das war bestimmt ihre mütterliche Intuition.
Die letzten Tage vor der Abreise waren schwierig. Ich mied ihr Metermaß wie die Pest. Auch meine Brüste waren gewachsen. Sie hatte sich in den Kopf gesetzt, ich würde sie deshalb nicht mehr meine Maße nehmen lassen. ›Schließlich habe ich dich gemacht!‹ Diesen Satz wiederholte sie immer wieder. Sie war so lieb. Und ich stieß sie immer nur weg.
Damals dachte ich ständig an eine Geschichte, die du mir mal erzählt hast, über Rodin. Weißt du noch? Wo er bei einer Sitzung entdeckt hat, dass sein Modell schwanger ist, während das Mädchen selbst es noch gar nicht wusste. Ich
war sicher, bei Maman würde es genauso sein. Sie würde es sogar mit geschlossenen Augen erraten. Sie kannte meinen Körper allzu gut, denn sie hatte mich gemacht. Ebenso wenig konnte ich meine Brüste verstecken, indem ich mir neue Sachen kaufte, das hätte sie als die größte Kränkung empfunden.
Glücklicherweise haben die Nähte bis Weihnachten gehalten. Das letzte Weihnachten mit meinen Eltern. Ich war am Ende des vierten Monats. Papa hat mir eine Staffelei geschenkt, die er selbst gebaut hatte. Nein, richtig geschenkt hat er sie mir nicht, dazu war er zu stolz. Sie stand einfach vor dem Weihnachtsbaum. Darüber hing ein wunderschönes wassergrünes Wollcape. ›Ich habe mich beim Stricken daran erinnert, wie es sich anfühlt, wenn ich dich in die Arme nehme.‹ Diesmal ließ ich mich ganz fest von Maman in die Arme nehmen, obwohl ich schon lange darauf achtete, dass sie mich nicht anfasste. Papa wollte nicht, dass ich ihn umarme, um ihm für die Staffelei zu danken. Ich habe viel geweint. Aber nicht vor seinen Augen, bloß nicht.
Dann war der große Tag da. Ich fuhr mit Madame M. fort. Nachts. Man sollte mich nicht in ihrem Haus in Paris ankommen sehen. Sie hatte alles vorbereitet. Ich würde in Sophies Kammer unter dem Dach wohnen. So konnte ich jederzeit das Fenster öffnen, denn es gab kein Gegenüber. Unterwegs erklärte sie mir, dass niemand etwas von meiner Anwesenheit ahnen dürfe. Wenn sie Besuch bekommen würde, sollte ich in meinem Zimmer bleiben. Auch wenn sie ausging, denn die Passanten oder die Nachbarn würden trotz der geschlossenen Vorhänge sehen, wenn jemand durch das Haus läuft. Ich akzeptierte ihre Beschlüsse, ohne zu protestieren.
Also verbrachte ich die Zeit in Sophies Kammer und im
Bad nebenan, das kein Fenster hatte. Wenn Madame M. da war und ich durch die Wohnung laufen wollte, ging sie so lange in mein Zimmer hinauf. Meistens waren wir beide oben. Das war fast so wie in L’Escalier. Ich malte, und sie las. Nur dass es etwas enger war.
Und ich hatte mir vorgestellt, ich würde Paris entdecken!
Damals kamen noch gute Nachrichten von der Front. Der Krieg beherrschte noch nicht die Titelseiten. Höchstens ein, zwei Spalten, um den Soldaten, die sich an der Maginotlinie langweilten, zu zeigen, dass man sie nicht vergaß. Seit wir gelesen hatten, dass dort Rosen gepflanzt wurden, um den Regimentern den Alltag zu
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