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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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unternahm, waren unsere täglichen Spaziergänge. Nichts genoss ich mehr als die Momente, in denen ich uns beide in den Straßen, den Parks, unter den Bäumen und vor den Schnäbeln der Tauben als Paar präsentierte . Die Händler – die, die noch da waren – beugten sich über den Kinderwagen, um dort ein wenig Optimismus zu schöpfen: Solange weiter Kinder zur Welt kamen, konnte man den Krieg nicht verlieren. Erst verkündeten sie mir, »dass Amerika Deutschland den Krieg erklärt hat«, »dass ein starker französischer Gegenangriff mit einer außerordentlichen Reservearmee im Gange ist«
oder »dass der schwerkranke Hitler zu Gunsten Görings zurücktreten wird«, dann schauten sie auf und sagten freundlich zu mir: »Es ist erstaunlich, wie ähnlich Ihnen die Kleine ist.« Lauter Unsinn, der uns beruhigte und an den wir alle glauben wollten.
    Die Leute in den Straßen kamen mir vor wie Tiere auf der Flucht, entschlossen, aber verloren. Ich konnte nicht umhin, sie zu verachten, ich fand sie feige.
    Und dann, eines Tages, habe ich ihn gesehen.
    Ich erkannte ihn sofort, trotz Bart und zerzausten Haaren, ich erkannte seine arrogante Art. Sein Gesicht war genauso verschlossen wie an dem Tag, als ich ihm in seinem Haus gegenübergesessen hatte, seine Miene genauso herausfordernd. »Schweinehunde!«, »Gauner!«, »Taugenichtse!« Zuerst weckten die Beschimpfungen der Passanten meine Aufmerksamkeit. Hemmungslos pöbelten sie eine Gruppe Gefangener an, die sich auf der anderen Straßenseite vor dem Café Piemont zusammendrängten. Drei Wächter hatten dort offensichtlich gerade einen über den Durst getrunken und schnauzten die Häftlinge an, die um ein Glas Wasser baten.
    »Wenn ihr Durst habt, pisst und trinkt es!«
    »Los, vorwärts, ihr faulen Schweine!«
    Auch für sie war das ein Exodus, man brachte sie wohl in ein anderes Gefängnis. Ich wartete, bis die Gruppe an mir vorbeikam, und rief den Wärter, der ganz hinten ging. Ich fragte ihn, ob er Geld brauche. Sein Blick leuchtete auf, und er schaute mich in Erwartung einer Erklärung schweigend an. Ich sagte, ich hätte zweihundert Francs bei mir, sie würden ihm gehören, wenn er diesen Mann dort frei ließe. Er riss mir die Scheine aus der Hand und stammelte irgendetwas wie: So, wie die Dinge sich entwickelten, würden die
Boches ihn befreien, wenn er es nicht täte … Warum also nicht …? Dann räusperte er sich laut und spuckte auf den Boden. »Warum gerade der?«
    »Weil er alt ist.«
    »Alte gibt es noch mehr.«
    »Weil er dem Großvater meiner Tochter ähnlich sieht.«
    Ich zeigte auf den Kinderwagen, den ich weiter mit der Hand hin und her schob, eine Bewegung, die nichts zu unterbrechen vermochte. Er antwortete: »Verstehe«, zuckte mit den Schultern, steckte das Geld ein und ging weiter. Ich wartete nicht ab, ob er ihn laufen ließ, ich hatte getan, was mir richtig schien, der Rest war nicht meine Sache.
    Das war am 6. Juni 1940. Ich hatte das Gefühl, mich reingewaschen zu haben.
    Ich hätte Annie gern gesagt, dass ihr Vater frei sei, aber ich hatte mich nicht dazu durchringen können, sie wissen zu lassen, dass er verhaftet worden war. Sie hätte zu ihrer Mutter fahren wollen, ich hätte sie nicht zurückzuhalten vermocht, und ich hätte mich von meinem Kind verabschieden können. Immerhin hatte ich Jacques gebeten, dafür zu sorgen, dass es der alten Frau an nichts fehle. Er sagte mir, dass ein junger Mann sie fast täglich besuche. Ich fühlte mich weniger schuldig, sie war also nicht ganz allein.
    Ich gebe zu, ich habe schlecht gehandelt. Andererseits schien diese Frau ihre Tochter nicht besonders zu lieben, sie hat ihr in der ganzen Zeit keinen einzigen Brief geschrieben. Allerdings erstaunt mich das nicht wirklich. Um nichts in der Welt hätte sie die Beziehung ihrer Tochter mit einer »Reichen« stören wollen, wahrscheinlich hoffte sie, auf irgendeine Art davon zu profitieren. Nichts ist niederträchtiger als ein armer Verwandter, wenn Geld im Spiel ist.
Nach Camilles Geburt machte mir Sophie schwere Vorhaltungen. Es gebe Dinge im Leben, die man dürfe, und Dinge, die man nicht dürfe. Was würde ich sagen, wenn man meiner Tochter eines Tages das Gleiche antun würde? Annie war nicht nur für Männer anziehend, ich wusste es nur zu gut, ich war ihrem Charme seinerzeit auch erlegen, und ich glaube, dass Sophie sie sehr mochte. Aber sie war mir zutiefst ergeben. Ich habe niemals verstanden, wie sie mir in diesem Unterfangen beistehen konnte, es

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