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Das geheime Prinzip der Liebe

Das geheime Prinzip der Liebe

Titel: Das geheime Prinzip der Liebe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hélène Grémillon
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mehreren Stunden verschlimmerte sich Annies Zu stand, Sophie bat mich, einen Arzt zu holen. Annie brüllte, sie wand sich vor Schmerzen, atmete hechelnd, pfeifend, heiser, sie konnte nicht mehr liegen, hockte auf dem Boden, auf allen vieren, wie ein Tier. Aber ich vermochte es nicht. Am Steuer meines Wagens wiederholte ich es mir ohne Ende, ich konnte keinen Arzt holen, niemand durfte wissen, dass es ihr Kind war. Der Vollmond überflutete die Straßen mit weißem Licht. Ich rollte ohne Scheinwerfer, ohne Abblendlicht, ohne Rücklicht dahin. Es war trotzdem richtig von mir gewesen, loszufahren. Die Hoffnung, dass ich einen Arzt holte, half ihr mehr, als wenn ich unnütz und gemein dageblieben wäre, hypnotisiert von ihrem Schmerz. Sie hätte gespürt, dass mich ihr Zustand unberührt ließ. Ich empfand weder Angst noch Sorge , sie leiden zu sehen. So ist das nun einmal: Bei der Rivalin hört das Mitgefühl auf.
    Ich weiß nicht, wie oft ich diesen Weg gefahren bin, vielleicht hundertmal. Der Kreis des Wahnsinns. Von zu Hause
nach Hause, vorbei am Haus von Dr. Pasquin, den ich seit neun Monaten nicht mehr aufgesucht hatte. Wenn ich bei ihm ankam, verlangsamte ich das Tempo, schwor beim Andenken meiner Eltern, dass ich ihn ansprechen würde, wenn er gerade herauskommen oder heimkehren würde, aber es kam niemand. Dann fuhr ich wieder nach Hause, wo ich ebenso wenig stehen blieb, aus Angst vor dem, was Sophie mir mitteilen würde. Die Erlösung? Die Tragödie? Also fuhr ich wieder zu Dr. Pasquin, in der Gewissheit, ihn diesmal vor seinem Haus zu treffen. Es hatte keinen Sinn, da ich auch nicht mehr bei Sinnen war ...
    Sophie legt mir das Kind in die Arme, es ist gesund, Annie tot. Immer wieder ließ ich diesen Satz in meinem Kopf klingen wie einen Walzer, »Annie tot«, »Annie tot«. Das hätte alles vereinfacht. Ich lachte und weinte zugleich, da ich wusste, dass dieser Tod den meines Kindes nach sich ziehen konnte. Tötet der Tod immer mit derselben Sense, oder hat er für jeden Menschen eine andere? Dr. Pasquin stand immer noch nicht vor seinem Haus. Und überall die Autos, die man eilends belud, die Lastwagen, die man mit Bergen von Archivmaterial, Kartons, allerlei Papierkram füllte, der dem Feind nicht in die Hände fallen durfte. Die Flucht der Verwaltungen, ein lautloser und nächtlicher Zerfall.
    Der Mond erschreckte mich, ganz deutlich konnte man sein Gesicht erkennen, ich hatte den Eindruck, dass er meine Handlungen und Bewegungen verfolgte. Ich erklärte ihm, dass er mich nicht verstehen könne, dass er nicht wisse, was es bedeute, ein Kind zu brauchen. Dann fiel mir auf, dass man ihm einen Frauennamen gegeben hatte, Luna. Vielleicht, weil sein Körper auch je nach Phase die Form wechselte. Ob er wohl bei jedem Vollmond einen Stern gebar? War Luna womöglich die Mutter aller Sterne?

    Nachdem der Mond verschwunden war, fuhr ich noch eine Weile herum. Dr. Pasquin war noch immer nicht vor seinem Haus. Plötzlich loderten im Garten des Quai d’Orsay hohe Flammen. Das heftige und überraschende Feuer riss mich aus meiner Benommenheit. War ich das Streichholz gewesen, das durch das Hin- und Herfahren das Feuer entzündet hatte? Die Lastwagen reichten nicht mehr aus, jetzt musste man die kompromittierenden Dokumente verbrennen. Schwarzer Rauch und weiße Asche stiegen in den Himmel. Ich weiß noch, wie mir der Gedanke durch den Kopf schoss, dass ich flache Streichhölzer nicht mochte.
    Jetzt war es Zeit, nach Hause zurückzukehren.
    Sophie legte mir das Kind in die Arme. Annie war eingeschlafen. Um den Satz aller Gebärenden der Welt zu stehlen: »Ich werde mich mein Leben lang an diesen Augenblick erinnern.« Ich versank in Camilles offenen, glasigen Augen. Man konnte es noch nicht einen Blick nennen, aber das würde fortan mein Leben sein. Ich blieb lange so sitzen, Camille an meine Brust gedrückt. Das, was ich am meisten befürchtet hatte, war nicht eingetreten, sie hatte keine Ähnlichkeit mit Annie. Gott sei Dank.

    Die Tage folgten träge und sanft aufeinander. Natürlich bestürzte mich die Kapitulation von Holland und Belgien, natürlich erschütterte mich der Vorstoß der Deutschen, aber ich zog mich in den Geruch meiner kleinen Tochter zurück. Es war stärker als ich, und alles, was um uns herum geschah, berührte mich, ohne mich zu rühren. Das Wunder dieser Geburt überstrahlte alles und überzeugte mich, dass auch dieser Krieg durch ein Wunder enden würde. War nicht die Rückkehr von Marschall

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