Das geheime Prinzip der Liebe
Pétain schon ein erstes Omen?
Das andere Wunder war, dass ich Annie mit anderen Augen sah. Der Angriff der Deutschen hatte den Kreis meiner Gegner in Bewegung gebracht, Annie blieb darin, stand aber nicht mehr allein. Die Deutschen hatten einen Teil meines Hasses von ihr genommen. Das ist eine Rechenaufgabe: Je mehr Feinde man hat – oder als solche wahrnimmt –, desto weniger heftig ist der Hass, den man ihnen gegenüber hegt. Trotz allem, was behauptet wird, sind Hass und Liebe nicht unbegrenzt.
Dann aber bemerkte ich, wie Annie Camille anschaute, ich sah, wie die Mutter von ihrem Kind Besitz ergriff. Wie hatte ich nur daran denken können, es ihr wegzunehmen? Wie hatte sie nur daran denken können, es mir zu geben? Wir wurden einander – und uns selbst – fremd. Ihre Neigung für die Malerei und meine Verzweiflung als sterile Frau hatten sich in Camilles völlig neuem Dasein aufgelöst. Unsere Leben hatten angehalten, um ihrem Platz zu machen, dieser Ära der Geburt, in der keine andere Entscheidung getroffen werden konnte, als das gerade geborene Kind zu füttern, trockenzulegen oder in den Schlaf zu singen. Es war die Zeit des Unvorstellbaren. Annie stillte Camille, das konnte ich nicht machen. Ich legte sie trocken, ich wiegte sie. Das konnte Annie nicht machen. Und alles schien für mich seine Richtigkeit zu haben.
Hätte Annie mir in diesen Tagen alles gestanden, sich bei mir entschuldigt, mich um ihre Tochter gebeten – ich hätte sie wohl beide gehen lassen, wenn auch schweren Herzens. Heute ist es leicht, das zu behaupten, aber ich schwöre, dass ich es auch im Nachhinein noch glaube. In jedem Konflikt gibt es wenigstens einige Sekunden, wo die Rivalen einer Meinung sind, und wenn sie sich in diesem günstigen Moment einander öffnen würden, anstatt sich weiter zu
belauern, könnte eine unverhoffte Verständigung daraus entstehen.
Stattdessen fragte mich Annie, ob ich Paul die Schühchen geschickt hätte.
Ich hatte zwei Paar gestrickt – ein blaues und ein rosafarbenes –, und wir hatten vereinbart, dass ich Paul »die Farbe, die geboren war« schicken würde. Annie mochte diesen Ausdruck, wohl weil eine Farbe ihr mehr zu gehören schien als ihr eigenes Kind.
Ich bejahte ihre Frage und wagte ihr nicht zu sagen, dass man den Versand von Päckchen an Frontsoldaten gerade unterbrochen hatte. Die Lage verschlechterte sich von Tag zu Tag, aber ich hielt Annie weiter in einem diffusen Wohlbefinden. Ich hatte mich daran gewöhnt und ich wollte vor allem verhindern, dass die Milch versiegte. Die Geburt war schwer gewesen, Camille sollte gedeihen.
Dabei wäre Paul glücklich gewesen, diese Farbe zu entdecken, er wünschte sich so sehr, dass es ein Mädchen wird, »damit sie niemals in den Krieg muss«, wie er öfter in seinen Briefen wiederholte. Ich hatte von einem Jungen geträumt, weil ich dachte, es wäre weniger wahrscheinlich, dass er Annie ähnlich sieht. Und vor allem, weil ein Junge nicht eines Tages feststellen muss, dass er kein Kind bekommen kann. Man will seinem Kind immer ersparen, was einem selbst das Schlimmste ist.
Als jedoch am 3. Juni die Deutschen ein paar Straßen weiter ihre Bomben abwarfen, musste ich Annie offenbaren, dass der Krieg ausgebrochen war.
Es war ein selbstmörderischer Angriff, der von der Verzweiflung der Deutschen zeugt. Zum Beweis der Vergeblichkeit dieser Offensive ist die Regierung noch
immer in Paris und beabsichtigt nicht, die Stadt zu verlassen.
Die ewig gleichen Meldungen der Zeitungen waren wirkungsvoller als die besten Lügen, die ich hätte erfinden können. Ich gab Annie nicht mehr Einzelheiten, sie verlangte keine, auch sie war ganz und gar mit Camille beschäftigt.
Ich hatte beschlossen, Paris nicht zu verlassen, egal was geschehen würde, und ich blieb dabei. Sogar als die Stadt zum Pulverfass wurde, als Reynaud, die Regierung und alle Ministerien feige flohen und in ihrem Gefolge Hunderttausende Pariser in Panik auf den Landstraßen nach Süden strömten.
Am 10. Juni waren die Deutschen angeblich weniger als fünfzehn Kilometer von Paris entfernt, und die Italiener waren gerade an ihrer Seite in den Krieg eingetreten. Meine Freunde und Bekannten fuhren fast alle ab, manche boten mir an, mich mitzunehmen, und flehten mich an, nicht allein mit meiner Tochter in Paris zu bleiben. Mich ängstigte vielmehr das Gegenteil, ich fand es mörderisch, einen Säugling in diesem Rette-sich-wer-kann mitzureißen.
Die einzigen Wege, die ich mit Camille
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