Das geheime Prinzip der Liebe
war alles, was sie hasste: Lüge, Verrat, Diebstahl.
Ich riet ihr wegzufahren, es wurde zu gefährlich für sie. Ich erzählte ihr von den Juden, die sich unter die Flüchtenden mischten. Bei ihnen verstand ich es, denn ich hatte in den Zeitungen Artikel gelesen, die ihnen das Schlimmste verhießen. Wer behauptet, zu der Zeit habe man noch nichts von den Lagern gewusst, lügt. Aber Sophie wollte nichts davon hören. Sie würde mich nicht verlassen, solange Monsieur nicht zurück war, sie hatte ihm versprochen, auf mich aufzupassen, sie würde ihr Versprechen halten. Und außerdem war sie Französin, und wenn die Franzosen sie brauchten, um es den Deutschen schwer zu machen, so würde sie da sein! Ich sollte sie »Marie« rufen, wie alle anderen Hausmädchen in Paris. Und hatte ihre Nase nicht eigentlich Ähnlichkeit mit einer hübschen kleinen bretonischen Nase? Die Deutschen würden sich täuschen lassen. Ich hätte weder über ihren Scherz lachen noch mich überzeugen lassen sollen, ich hätte ihr befehlen müssen, sofort wegzufahren.
Letzten Endes war sie es, die sich getäuscht hat.
An einem Januarmorgen 1942 rückten in aller Frühe zwei deutsche Polizisten in Zivil an. Vor meinen Augen lief ihr übliches armseliges Theater ab. Es sei keine Verhaftung,
sondern eine simple »Zeugenaussage«, nach der sie sehr wahrscheinlich an ihren Wohnsitz zurückkehren werde. Dennoch legten sie ihr nahe , eine Tasche mit ihren Sachen mitzunehmen. Während Sophie sich fertigmachte, ließen die Deutschen sie nicht aus den Augen. Als sie in ihren Waschraum ging, stellte ein Polizist den Fuß in die Tür. Ich habe nie verstanden, wie sie es geschafft hatten, sie zu finden. Hübsche kleine bretonische Nase hin oder her, ich hatte ihr seit mehreren Monaten verboten, die Wohnung zu verlassen, ich machte selbst die Besorgungen, und sie blieb zu Hause, kümmerte sich um die Wirtschaft und um Camille. Wenn es klingelte, machte sie nicht mehr auf. Jemand musste sie denunziert haben.
Wie sie Camille umarmt hat, ehe sie ging! Sie flüsterte ihr zärtliche Worte ins Ohr, in ihren Augen glänzten Tränen, aber sie beherrschte sich. Sie drückte sie so fest an sich, dass mich einer der Polizisten zur Rede stellte: »Ist das wirklich Ihr Kind, Madame?«
Dieser Satz, vor dem ich mich seit langem fürchtete, so unangebracht und in einem so schmerzlichen Moment, löste bei mir ein nervöses Lachen aus.
Sophie drehte sich verständnislos zu mir um.
»Ich lache, Marie, weil ich Monsieur versichern soll, dass Camille nicht Ihre Tochter ist.«
Ein freundliches Lächeln zog über Sophies Gesicht. Das ist das letzte Bild, das mir von ihr bleibt.
Aber zurück ins Jahr 1940. Sophie hatte mich verständigt, dass Paris »offene Stadt« sei. Überall klebten Plakate, keiner wusste genau, was das bedeutete, aber alle verstanden, dass es ein schlechtes Zeichen war. Wir spürten, dass etwas Schreckliches bevorstand. Das war am 12. Juni. Das
Gerücht, die Deutschen würden anrücken, wurde immer lauter.
Am nächsten Abend wurde ich von einer Stromsperre überrascht, ich war gerade im Bad. In völliger Dunkelheit ging ich in Annies Zimmer, um zu sehen, ob alles in Ordnung sei . Sie war eingeschlummert, Camille lag in ihrer Wiege. Auf der Suche nach Kerzen öffnete ich nacheinander die Schubladen der Kommode. Die Zeit des nächsten Stillens kam heran, Annie musste etwas sehen. Ich wühlte lange herum, dann glaubte ich, fündig zu werden. Aber was da unter den Taschentüchern lag, war kälter als eine Kerze, es war aus Metall. Kaum größer als ein Kinderspielzeug. Ich erinnere mich, dass ich einen Schrei des Entsetzens oder eher der Ungläubigkeit ausstieß, als ich es unter dem Stoffhaufen hervorholte.
Plötzlich war die ganze Geschichte wieder da. Hörte das denn niemals auf?
»Ich lasse dir die Pistole als Versprechen, dass ich zu dir zurückkehren werde ...«
»Ich schenke der Frau, die mir das Wichtigste ist, den Gegenstand, der mir der wichtigste ist ...«
Die ganze Nacht stellte ich mir alle Schwüre vor, die Paul geleistet haben mochte, als er Annie die »kleine Derringer« überließ, ehe er in den Krieg zog. Vielleicht hatte er ihr die Waffe schweigend gereicht, ehe sie hemmungslos miteinander schliefen. Wahrscheinlich.
Ich schreckte beim Aufwachen hoch, die Pistole lag auf meinem Kopfkissen, die Mündung war auf mich gerichtet. Ich fühlte mich so schwach, noch müder als vor dem Schlaf. Als ich mich gerade kämmte, kam Sophie ins
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