Das geheime Prinzip der Liebe
hatte mich aber damit begnügt, sie hinauszuwerfen. Auch der tiefste Hass wird niemanden töten, wenn er nicht mit einer mörderischen Veranlagung gepaart ist.
Kaum war die Tür hinter ihr zugeknallt, bedauerte ich schon, dass mein Wunsch, sie nicht mehr zu sehen, stärker gewesen war als die Vorsicht, die verlangt hätte, dass ich die Kontrolle über sie behielt.
In den folgenden Wochen wurde die Angst zum Dauerzustand, zum Wahn. Annies Abwesenheit erwies sich als viel bedrohlicher als ihre Gegenwart. Was würde sie jetzt tun? Hatte sie meine Lügen geglaubt? Würde sie weiter auf Paul warten? Und Camille? Würde sie auf das Kind verzichten? Ich war völlig verunsichert.
Ich bat Jacques, weiter in L’Escalier zu bleiben, offiziell, um das Haus instandzuhalten , in Wirklichkeit, um Annie zu beobachten, die nach N. zurückgekehrt war. Aber es beruhigte mich nicht gänzlich, dass ich wusste, wo sie war. Als mir Jacques vom Tod ihrer Mutter erzählte, freute ich mich schamlos. Ich dachte, dass Annie nicht mehr von N. weggehen, sondern sich um ihren Vater kümmern würde.
Die Monate vergingen, ich wurde etwas ruhiger, bis es eines Dezembertags an der Tür klingelte. Ich erkannte den jungen Mann, der Annies Mutter täglich besucht hatte, während Annie in Paris war. Jacques hatte ihn mir genau beschrieben. Annie, so erzählte er, habe N. wenige Tage zuvor verlassen. Er dachte, sie sei hier. Zuerst glaubte ich, das sei eine List, um mir Camille wegzunehmen. Die Enttäuschung in seinen Augen, als ich ihm sagte, dass Annie nicht da sei, beruhigte mich. Es war keine Falle, er suchte sie wirklich. Ich war nicht vorbereitet, aber er wirkte wie
ein schüchterner Liebhaber, und das regte mich zu einer Geschichte an, flüsterte mir Dinge ein, die er nicht ertragen würde. Ich erzählte ihm, dass sich Annie in einen Soldaten verliebt hatte. Ich ging sogar so weit, ihm zu sagen, sie hätte wahrscheinlich geheiratet.
Als er sich von mir verabschiedete, war er verzweifelt. Ich hingegen war erleichtert. Annie hatte ihm nichts über sich und meinen Mann erzählt. Ich glaubte schon, die Gefahr sei gebannt, da sagte er in dem Ton, in dem man zu Kindern spricht:
»Auf Wiedersehen, Louise.«
Damit hatte er sich verraten. Annie war die Einzige, die diesen Vornamen kannte. Er wusste die Wahrheit, jedenfalls über Camille.
Als Annie mir vorgeschlagen hatte, das Kind »Louise« zu nennen, tat ich so, als würde ich zustimmen. In dieser Phase tat ich so, als würde ich allem zustimmen. Aber in meinem tiefsten Innern hatte ich immer gewollt, dass das Kind den Namen meiner Mutter trägt: Camille. Sie musste ja wenigstens irgendetwas von mir haben. Vor dem Standesbeamten hatte ich keine Sekunde gezögert.
»Camille Marguerite Werner.«
Auch nicht bei der nächsten Frage.
»Wann geboren?«
»Vor fünf Tagen: am 28. Juni.«
Camille war etwas über einen Monat alt, ich aber sagte »fünf Tage«, wie fast alle anderen neuen Mütter vor mir in der Reihe. Für gewöhnlich waren es Männer, die vor diesem Schalter »gestern« antworteten. Seit Kriegsbeginn waren es Frauen, die »fünf Tage« oder »eine Woche« sagten, je nach der Zeit, die sie benötigt hatten, um sich von ihrer Entbindung zu erholen.
Es war ungefährlich, beim Alter macht ein Monat sehr schnell keinen Unterschied mehr. Annie sollte keine offizielle Wahrheit über Camille bewahren. Mein Kind sollte für sie eine Fremde werden und auf ewig bleiben. Auch Paul hat immer geglaubt, dass seine Tochter einen Monat jünger ist. Ich war die Einzige, die Camille insgeheim an ihrem wahren Geburtstag gratulierte. Zugleich beging ich Jahr für Jahr das Elend meiner früheren Lügen, denn mit zunehmendem Alter wuchs auch das Schuldgefühl.
»Auf Wiedersehen, Louise.«
Ich sah dem jungen Mann mit merkwürdiger Sympathie hinterher. In dieser Geschichte spielten wir beide, er und ich, irgendwie die gleiche Rolle: die der Verratenen, Verhöhnten, Zukurzgekommenen.
Aber er wusste, dass Camille Annies Kind war, deshalb stellte er eine Bedrohung dar. Ich musste ihn überwachen, ich musste die Gefahr eingrenzen. Zugleich schien er mir auch das beste Mittel, wieder Annies Spur aufzunehmen. Sollte sie irgendwann bei jemandem auftauchen, dann bei ihm, das stand für mich fest. Die Beziehung zwischen ihnen war etwas Besonderes. Eine Form von Liebe, die eine Frau veranlasst, ihrem Kind den Vornamen des Mannes zu geben, wenn er schon nicht dessen Vater ist. Ich habe nie aufgehört, seine Spur zu
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