Das Geheime Vermächtnis
geistesabwesend, es ginge ihr gut, es sei alles in Ordnung. Und dem Vorarbeiter blieb nichts anderes übrig, als sich mit einem nachdenklichen Ausdruck in den Augen wieder zu verabschieden. Wenn die Enge doch einmal unerträglich wurde und Caroline ihren Mut zusammennahm und sich nach draußen wagte, traf der Wind ihre Haut wie mit Messern, und der Himmel ließ kaltes Grauen herabregnen. War sie einmal durchgefroren, dauerte es Stunden, bis ihr wieder warm wurde, ganz gleich, wie dicht sie sich vor den Ofen kauerte. Als sie eines Morgens das Eis auf der Zisterne brach und die Wasserspritzer auf ihrer Haut vor Kälte brannten, dachte sie an das warme Wasser des Teichs, in dem sie bei ihrem Ausflug geschwommen waren. Und sie starrte in die dunkle Tiefe des Wassertanks hinab, wie versteinert vor Traurigkeit.
Nachts lagen Caroline und Corin oft wach, weil der Wind so laut ums Haus heulte, dass man ihn nicht ignorieren konnte. In einer solchen Nacht zeichnete er unter der Bettdecke Muster auf ihre Schulter, die sie sowohl besänftigten als auch erregten. Sie liebte seinen Geruch so sehr, stark und leicht animalisch nach einem langen Arbeitstag in schwerer, warmer Kleidung. Sie klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende an ein Rettungsfloß, hielt die Augen fest geschlossen und glaubte, das Haus könnte dem Ansturm jeden Moment nachgeben und vom Wind weggerissen werden, mit ihnen beiden darin. Das Haus war eine Fiktion, dachte sie, nur eine dünne Schale zwischen ihnen und der leeren Wildheit da draußen, und könnte binnen eines Herzschlags verschwinden. Solange Corin nur hier war, sagte sie sich. Solange er hier bei ihr war, machte sie sich nichts daraus. Er schien ihre Ängste zu spüren und versuchte, sie zu beruhigen. In diesem Tonfall hatte sie ihn schon zu nervösen Pferden sprechen hören. Seine Stimme war leise, und sie hatte Mühe, sie trotz des tosenden Windes zu verstehen – die Worte brandeten in einem beständigen Rhythmus heran wie rauschende Wellen, halb wachend und halb schlafend.
»Wir sollten an White Cloud und Annie denken. Ich weiß zwar, dass die Ponca in dieses Leben hineingeboren werden und stärker sind als wir. Dennoch möchte ich in einer solchen Nacht nicht nur ein paar Häute zwischen mir und dem Wind hängen haben. Hutch hat mir vom Großen Viehsterben erzählt, im Winter siebenundachtzig – das war, bevor ich in den Westen gekommen bin. Wir beide, du und ich, lebten damals noch in New York City, ohne voneinander zu wissen. Wenn wir einen schlimmen Winter haben, schüttelt Hutch nur den Kopf, wann immer ich etwas über die Kälte sage, und erklärt, das sei nichts, gar nichts im Vergleich zum Großen Viehsterben. Ganze Herden sind damals auf den Weiden erfroren. Reiter starben dort draußen und wurden erst im Frühjahr gefunden, als der Schnee schmolz. Da saßen sie dann, einsam gestrandet, die Knie an die Brust gezogen, um sich warm zu halten, und das war das Letzte, was sie je taten. Die Rinder waren schon mager und geschwächt von der Dürre im Sommer zuvor, und es hatte kaum Gras oder anderes Futter gegeben. Und sie starben einfach scharenweise. Die Kühe verloren ihre Kälber, lange bevor sie zur Welt kommen sollten, weil es kaum genug Nahrung gab, um ein Maul zu füllen, geschweige denn zwei. Hutch selbst verlor drei Zehen – zwei am rechten Fuß und einen am linken. Er war in einem so dichten Schneesturm hinausgeritten, dass er kaum die Ohren seines Pferdes erkennen konnte. Er versuchte, das Vieh in Bewegung zu halten, damit die Tiere sich nicht einfach zusammendrängten und zu einem großen Klumpen toten Fleisches gefroren. Als er am Ende des Tages vom Pferd stieg, spürte er seine Beine nicht mehr, von den Füßen ganz zu schweigen. Er hat mir erzählt, dass es ihm erst drei Tage später gelang, die Stiefel auszuziehen, und bis dahin waren seine Füße schwarz angeschwollen, denn das Blut war buchstäblich in den Adern gefroren. Und die Geschichte ist wirklich wahr: Ich habe die Lücken gesehen, wo diese Zehen sein sollten. Es gab Schneestürme, wie man sie noch nie erlebt hatte und seither nie wieder erlebt hat, von Mexiko bis Kanada und überall dazwischen. Ich erinnere mich – weißt du noch, dass es in einem Jahr kein Rindfleisch gab, als du klein warst? Vielleicht warst du zu jung, aber ich weiß noch, dass man in ganz New York kein Rindfleisch kaufen konnte. Die Köchin versuchte jede Woche alles Mögliche, um welches zu bekommen, aber es gab einfach keines. Nicht für
Weitere Kostenlose Bücher